Kommentar Palästinensische Häftlinge: Hungern für ein Selfie
Im Einzelfall kann der Hungerstreik erfolgreich sein. Als Massenprotest ist die Nahrungsverweigerung erfahrungsgemäß wenig sinnvoll.
![Der Fatah-Politiker Barghuti im Januar 2012 bei eine Gerichtsverhandlung in Jerusalem Der Fatah-Politiker Barghuti im Januar 2012 bei eine Gerichtsverhandlung in Jerusalem](https://taz.de/picture/1926894/14/992068aa5c18d3c2b9caa1b5b3125729_edited_68185778_711da26361.jpeg)
H ungerstreiks palästinensischer Häftlinge sind für Israels Sicherheitsbehörden ein empfindliches Thema. Um den Tod eines Häftlings und die darauf sicher folgenden Unruhen zu verhindern, haben Anwälte wiederholt Kompromisse für ihre hungerstreikenden Mandanten erwirken können. Meist geht es bei sogenannten Administrativhäftlingen darum, die Haftzeit, die den israelischen Regeln entsprechend alle sechs Monate von Richterhand verlängert werden muss, stillschweigend auslaufen zu lassen. Im Einzelfall kann der Hungerstreik also Früchte tragen. Als Massenprotest hingegen ist die Methode der Nahrungsverweigerung erfahrungsgemäß wenig sinnvoll, wenn nicht sogar kontraproduktiv.
Marwan Barghuti, einst Chef der Fatah-Jugend, hält die Zügel beim Streik der Häftlinge in den Händen. Der zu mehrfach lebenslänglicher Haft verurteilte Politiker hat hinter Gittern promoviert, auf Hebräisch. Das Fernstudium an einer israelischen Universität gehörte über Jahre wie selbstverständlich zu den Rechten der Häftlinge, bis die Gefängnisbehörde als Reaktion auf einen Streik die Lehrbücher aus den Zellen entfernen ließ.
Barghuti spricht in seinem Appell, sich dem Hungerstreik anzuschließen, von Folter und Erniedrigung. Tatsächlich entsteht beim Lesen der Forderungsliste der Eindruck, als sei es um die Bedingungen in den Gefängnissen gar nicht so schlecht gestellt. Denn dort ist weder von Haft ohne Richter noch von Peinigern in Uniform die Rede, obschon es bekanntermaßen beides gibt – sondern von Satellitenfernsehen, vom Zugang zum Telefon und vom Selfie, das alle drei Monate im Rahmen der Familie fortan möglich sein soll.
Wie lange es sich dafür zu hungern lohnt, mag sich der ein oder andere der rund 1.500 Streikenden sehr bald selbst fragen. Und dann vermutlich viel früher aufgeben, als es Barghuti und seine Mitstreiter erwarten mögen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten