piwik no script img

Kommentar Odenwaldschulen-SkandalKritische Nähe

Kommentar von Christian Füller

Der Skandal an der Odenwaldschule ist ein Lehrstück. Schade, dass die Reformpädagogik diese Diskussion nicht angenommen hat.

D er Skandal an der Odenwaldschule ist ein Lehrstück. Die Reformpädagogik kann nicht so tun, als ginge sie der moralische Bankrott dieses Eliteinternats nichts an. Immerhin wollte die Odenwaldschule immer ein Vorbild sein. Aber ihr Leiter Gerold Becker, ein Popstar seiner Zunft, hat dort ihre Grundidee auf den Kopf gestellt - besonderen Respekt vor dem Kind kehrte er in brutale Ausnutzung um.

Becker hat die Reformpädagogik damit ins Mark getroffen. Erst eichte er das pädagogische Programm der Schule auf die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler um; kein Wort mehr über Schule oder Lernen. Unter Becker gab es an der Schule bezeichnenderweise zwei Fraktionen: seine "Kinderfreunde" - und die lästigen "Faschisten", die verlässlich Schule machen wollten. Becker räumte sie zur Seite, um danach als Oberhaupt seiner Internatsfamilie freie Fahrt zu haben, seine sexuellen Interessen zu verfolgen. Becker beutete Jungs zwischen 12 und 14 Jahren aus. Das heißt, er griff Jungs in ihrer wichtigsten Entwicklungsphase zwischen die Beine. Das hat mit jener Integrität, die der Pädagoge fleißig predigte, gar nichts zu tun: Es ist ein Verbrechen.

Gerold Becker hat nicht nur Jugendliche, sondern auch die Reformpädagogik für seine Zwecke missbraucht. Natürlich bedeutet "Nähe zum Kind" unter den hermetischen Bedingungen eines Internats am Waldesrand etwas anderes als im Alltag von Reformschulen im Kiez. Dennoch muss die "Pädagogik vom Kinde aus" nun beweisen, dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Dazu gehört ein hohes Ethos der Lehrer genauso wie Kontrolle durch Kollegen und Schule. Sonst wird Nähe kritisch.

Bild: taz

Christian Füller ist Bildungs-Redakteur der taz.

Schade, dass die Reformpädagogik diese Diskussion nicht angenommen hat. Denn wir brauchen sie dringend, um Alternativen zur kalten Staatsschule aufzuzeigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • R
    Reformer

    Die Staatsschule hatte bisher - bis auch sie durch Dauerpropaganda pro Reformpädagogik umgebaut wurde - den Vorteil, überprüfbare Verfahren anwenden zu wollen. Herr Füller irrt, "Pädagogik vom Kinde aus", "Beziehungsarbeit", "individualisierte Lernen" und was der schönen Vokabeln mehr sind versprechen keinen Vorteil für die Schüler und bilden unter Umständen die Grundlage für fürchterliches Mobbing - ohne jeden in einer herkömmlichen Schule vorhandenen Objektivierungsansatz als Schutz für die Schüler.

    Gerade die Odenwaldschule macht ja überdeutlich, dass Reformpädagogik die Funktion hat, reichen Kindern einen last exit zu Bildungslaufbahnen zu ermöglichen, auf Kosten der Sozialamtsschüler, aus denen sich die Opfer des Missbrauchs rekrutierten. In einer staatlichen Schule kann ein Schüler bei passablen Leistungen ein Bein auf den Boden bekommen, auch wenn er persönlich nicht gemocht wird oder nicht gefügig ist, in der Reformpädagogik ist eine Gleichbehandlung der Schüler rein institutionell nicht vorgesehen.

    Man darf nicht vergessen, dass es gerade die Errichter des Missbrauchssystems an der Odenwaldschule waren, die anschließend über Jahre als Ausbilder vermeintlicher Beziehungsarbeit und zugleich Multiplikatoren in Sachen Reformpädagogik unterwegs waren und keinesfalls in Diskurs und Selbstreflektion geschulte Therapeuten.

    Gezielt wurde daran gearbeitet, jede Objektivierung von Schüler-, insbesondere aber Lehrer- und Methodenleistung zu verunglimpfen, so dass die gesamte Reformpädagogik auf den Standbeinen Zugehörigkeitsgefühl und Sympathie beruht.

    Dabei ist anzumerken, dass Verunglimpfung von Objektvierbarkeit und Intellektualität in der Nazi-Pädaogik erstaunliche inhaltliche und personelle Berührungspunkte zur Reformpädagogik aufweisen.

    Die Strukturen auch anderer Einrichtungen sind identisch mit der an der Odenwaldschule beschriebenen - mit nahezu immer beobachtbarer Spaltung in "Erleuchtete" und "Verhinderer", auch dort, wo reformpädagogisches Vorgehen inhaltlich nicht mit Pädosexualität gefüllt wird.

    Die Vermeidung einer Stellungnahme, deren Fehlen Füller so schmerzhaft bemerkt, ist unmittelbare Folge. Sie ergibt sich geradezu zwangsläufig aus der jahrzehntelangen Verhinderung des offenen Diskurses.

  • C
    cif

    @maria schneider

    1) kalt meint, dass die staatschule im wesentlichen die kinder als abfüllgefässe betrachtet mit denen man nur unterricht machen muss in vorher zurechtsortieren gruppen; dort wird beziehungsarbeit total vernachlässigt, das heißt: kalt = das kind muss sich der institution anpassen

    2) an reformschulen ist klar: schule ist lernen PLUS beziehungsauftrag. dieser impuls kommt aus der reformpädagogik und ihrem zentralen satz der pädagigik vom kinde aus. warm = die institution muss sich am kind orientieren

    3) ergibt sich aus obigem

    best www.pisa-versteher.de

  • SW
    Susanne Wegener

    Lieber Herr Füller,

     

    Übegriffe sind immer ein Diebstahl an der Entwicklung des Kindes/Jugendlichen, egal in welchem Alter.

     

    Unter welchen pädagogischen Konzepten sie begangen werden, ist dabei egal.

     

    Methoden der Organisation des Übergriffsraumes sowie Ausreden sind es auch.

     

    Gruß

     

    Susanne Wegener

  • MS
    Maria Schneider

    Ein durchaus kritischer Kommentar, könnte man meinen, bis man zum letzten Satz kommt: "Denn wir brauchen (die Reformpädagogik) dringend, um Alternativen zur kalten Staatsschule aufzuzeigen."

     

    Mindestens die folgenden Fragen sind hier offen:

     

    Die "Staatsschule", so lesen wir, sei "kalt".

    Warum die unklare Terminologie; was ist hier gemeint?

     

    Die sog. "Reformpädagogik" zeige hingegen "Alternativen" auf, und dafür bräuchten "wir" sie "dringend".

    Von welchen Alternativen ist hier die Rede und warum wird zu deren Aufzeigen "dringend" die sog. "Reformpädagogik" gebraucht?

    Sollte das Aufzeigen dieser undefinierten Alternativen Schulauftrag sein und wer ist im Zweifelsfall wohl der Leidtragende eines solchen Verständnisses von Schule?

     

    Und schließlich: Warum versucht Christian Füller im letzten Satz wieder einmal eine Ehrenrettung der sog. "Reformpädagogik"?

  • M
    marina

    Herr Füller,

     

    ich stimme ihnen zu, dass es hier eine Diskussion braucht. Aber ich will sie korrigieren: das ist nicht nötig für die Reformpädagogik, sondern für die Pädagogik (oder Bildungs/Erziehungswissenschaften, wie es jetzt genannt werden soll...) insgesamt. Man denkt sich da anscheinend sehr viele mehr oder weniger sinnvolle Konzepte aus den ganzen Tag, aber dem Problem der Begünstigung oder vielleicht ins Werk-Setzung pädaophiler Übegriffe (Macht) steht sie gegenüber wie eine scheue Nonne einem nackten Manne: sie wird rot, läuft weg und knallt mit voller Wucht gegen eine Wand, wird bewusstlos und vergisst, jemals einen Mann gesehen zu haben (was das Ziel ist). Als Student der Dipl. Päd jedenfalls kann ich berichten, dass ich in 7 Semestern noch nicht einen einzigen wirklich ernsthaft geführten Diskurs über Pädaophilie und Pädagogik beigewohnt habe, weil einfacher keiner stattfindet; stattdessen höre ich, wie defizitär Kinder sind. Ich habe in meiner Vordiplomsklausur in Erziehungswissenschaften ganz und gar genau dieses Thema angesprochen (Pädophilie in Schulen als Problem am Schnittpunkt zwischen Wisschenschaft und Insitution) und ich bin durchgefallen, was die Dinge bezüglich Pädophilie betrifft auch noch kommentarlos; man sagte mir lediglich, dass man hoffe, es möge noch "Klick" bei mir machen, weswegen ich jetzt inständig hoffe, dass es niemals "Klick" bei mir machen wird.

     

    Die Odenwaldschule ist nicht die ganze Reformpädagogik und die Pädophilie ist kein reformpädagogisches Problem, sondern eines, dass in fast allen Institutionen vorzufinden ist, in denen die Pädagogik auch sitzt wie zb, Behindertenheime, Jugendheime, Kinderpsychiatrien usw. usw. usw.

    Was festzustellen ist, ist dass diese Sache mittlerweile anscheind sogar in vorgeblich eher gemäßigten Institutionen wie der Odenwaldschule völlig frei spielen kann, was erschreckend ist, weil es darauf hinweist, dass es in weniger reformistischen Institutionen eher noch krasser als gediegener zugeht, also die Pädagogik vor diesem Problem regelmäßig versagt, wenn es sie denn mal interessiert; die Odenwaldschule ist Indikator, Symptom, nicht Ursache, sondern Folge eines Schweigens und einer Macht, im Grunde älter als die Odenwaldschule selbst.

  • DL
    Dr. Ludwig Paul Häußner

    Die OSO hat kein Monopol auf Reformpädagogik.

    ---------------------------------------------

     

    Quantitativ sind die Landerziehungsheime unbedeutend. Allerdings gehören sie zu den reformpädagogischen Schulen. Es wäre aber auch fatal wenn die Reformpädagogik auf die OSO reduziert würde.

     

    Nach all den Vorkommnissen sollt der OSO die Betriebserlaubnis entzogen werden.

     

    Leute wie Gerold Becker haben ihre Macht (un)heimlich misbraucht und gehören juristisch belangt.

     

    Schulen als "Treibhäuser der Zukunft" (Reinhard Kahl) sind im Grunde genommen permanente Reformstätten.

     

    Wenn die reformpädagogische Idee - auch 100 Jahre später - genügend Kraft hat, wird es eben neue reformpädagogische Schulen geben. Der Staat müsste hierfür nur Modellschulen zulassen, z. B. als frei-öffentliche Schulen mit staatlich finanzierten Bildungsgutscheinen pro SchülerIn, statt Schulen in freier Trägerschaft weiterhin finaziell zu benachteiligen.

     

    L.P. Häußner, Karlsruhe

    Initiator von www.unternimm-die-schule.de

  • HH
    Helene Hausmann

    Lieber Herr Füller,

     

    das Problem Gerold Beckers ist systemimmanent. Lesen Sie mal die Biographie Hartmut von Hentigs - der greift alle 20 Seiten einem Jungen zwischen die Beine. Sei es dem "hübschen" Konrad Raiser oder Martin Heisenberg (beides Söhne berühmter Väter), vielleicht auch dem Michael Klett oder gar dessen Vater, Ernst Klett, der für Hentig den Weg vom Studienversager 1948 in Göttingen - der bei rationalen Zahlen seine intellektuellen Grenzen schmerzhaft spürte - bis zum Professor 1962 in Göttingen ebnete. Dabei half die Clique um Hellmut Becker.

     

    Helene