Lieber Martin Kaul,
Ich bin in der Berliner Bewegung aktiv und bin jeden Tag vor Ort präsent. D.h. ganz konkret, dass meine Einschätzungen nicht von irgendwoher kommen. Und immer wieder gerne der Hinweis: Ich bin kein Sprecher oder Verantwortlicher der Bewegung, denn wir haben weder SprecherInnen noch Verantwortliche.
Nun zu Ihrem Artikel: Zunächst stelle ich mit Wohlwollen fest, dass Sie, wenn Sie von den Gefahren der Unterwanderung der Occupy-Bewegung sprechen, ein gewisses Niveau bewahren - ganz im Gegenteil zu Ihrem Kollegen Felix Dachsel, der es in seinem Artikel („Die dunkle Seite der Occupy-Bewegung“) schafft, mit ein paar sprachlichen Taschenspielertricks den Eindruck entstehen zu lassen, wir seien tatsächlich schon von Zeitgeist unterwandert, was einen hässlichen Nachgeschmack auf die gesamte Occupy-Bewegung hinterlässt. Dennoch möchte ich an dieser Stelle einige Dinge klarstellen:
1. Etwas Allgemeines ganz vorweg: Wir haben uns am 15.Oktober das erste Mal getroffen und die Asamblea konstituiert. Das ist gut eine Woche her, in der wir sehr viel diskutiert, gelernt und gearbeitet haben. Die Menschen, die bisher vor Ort waren, sind sehr engagiert und sensibilisiert für die Gefahren und möglichen Probleme, die uns erwarten. Diese neue Mikro-Gesellschaft, die wir gerade ausprobieren, die ihren Kern in der Asamblea hat, ist zugleich ein sehr komplexes Ding, welches noch durchdacht, weiterentwickelt und in einem kollektiven Erfahrungsprozess in Gang gebracht werden muss. Das nimmt Zeit in Anspruch, doch wir haben uns darauf verständigt, uns die Zeit zu nehmen; geduldig zu sein; und vor allem: uns nicht unter Druck setzen zu lassen, weder von Medien noch von Politikern, von denen jetzt viele eine konkrete Positionierung der Bewegung einfordern. Doch darauf lassen wir uns nicht ein. Wir bleiben ruhig. Unsere kommunikative Revolution braucht Zeit.
2. Auch wenn Sie rechte Gruppen, Zeitgeist etc. - korrekterweise - als minoritäre Gruppen innerhalb der vielschichtigen Occupy-Bewegung ausweisen, frage ich mich dennoch, warum die taz sich offenbar mehr auf die Gefahren und Probleme konzentriert, die unsere Kommunikations- und Organisationsformen mit sich bringen, als auf die Chancen, die sie eröffnen: Konsensorientierter Austausch, demokratische Entscheidungsfindung, die ihren Namen verdient, respektvoller Umgang mit Unterschieden statt Konkurrenz und Selektion, Arbeitsteilung und effektives Arbeiten ohne Hierarchien etc.
Ich hoffe, die taz macht sich nicht wie damals, als die deutsche Übersetzung des „kommenden Aufstandes“ in den Feuilletons diskutiert wurde, zum Wortführer einer Negativkritik, die ihren zum Teil schon beschämenden Höhepunkt in dem Artikel von Johannes Thumfart („Fast wie Gas“) fand. (Nicht dass es zu Missverständnissen kommt: Ich sehe keinen Bezug zwischen Occupy und dem "comité invisible", es geht vielmehr um die übliche Reaktion Ihrer Zeitung auf neuartige Protestformen.)
3. Sie schreiben: „...dass sich viele Globalisierungskritiker den Protesten nicht anschließen. Sie fühlen: Wer zu allen Seiten offen ist, kann irgendwo nicht ganz dicht sein.“
Ich glaube nicht, dass dies der Grund dafür ist, dass unsere Bewegung zahlenmäßig noch ausbaufähig ist. Wenn Sie die letzte Woche vor Ort waren, haben Sie sicherlich mitbekommen, wie bereits darüber diskutiert wurde, wie man sich als Bewegung bzw. als Asamblea gegenüber Rassismen oder Sexismen verhalten könnte. Temporäres (!) Fazit: 99 Prozent bedeutet, sich auch solchen Menschen zu öffnen und ihnen eine Chance zu geben, sich zu ändern, so wie wir selbst jeden Tag in den Asambleas einen Lernprozess durchleben. Gleichwohl ist für alle Beteiligten klar, dass eines unserer wichtigsten Prinzipien die Gewaltlosigkeit ist, welche sich gleichsam auf jede Form von nicht-physischer Diskriminierungsgewalt bezieht. Sobald es dazu kommen wird, werden wir darüber sprechen und uns damit auseinandersetzen – und auch entschlossen handeln.
4. Sie schreiben: „99 Prozent ist eine Zahl, auf die sich sonst nur Diktatoren berufen. Zu einer gesunden Mehrheit reichen 51.“
Mal abgesehen von der 'Dachselschen Drehung', die Sie an dieser Stelle leisten, möchte ich auf den offensichtlichsten Unterschied zwischen uns und Diktatoren verweisen: Der Slogan „99 Prozent“ ist ein Mobilisierungsslogan, der Menschen davon überzeugen soll, dass uns alle etwas verbindet: Wut, Empörung, Kritik, Unzufriedenheit mit dem aktuellen gesellschaftlichen Zuständen, der Wille, dies zu ändern. Wir leiten keinerlei Entscheidungen oder Konsequenzen aus dieser Annahme ab, weder für uns (außer in einer sehr abstrakten Weise) noch für andere Menschen. Diktatoren hingegen entscheiden für die 99 Prozent, die sie vorgeblich vertreten. Die 99 Prozent ist hier eine Anmaßung, bei uns hingegen die Einladung zum Gespräch.
Zu den 51 Prozent: Was Sie als „gesund“ empfinden unterscheidet sich von unserem Verständnis. Auch würde ich einen anderen Begriff bevorzugen, welcher stärker die Subjektivität Ihrer Behauptung herausstellt, und nicht so sehr die anscheinende Normalität. Für uns nämlich sind 51 Prozent weder „normal“ noch „gesund“, sondern Ausdruck eines halb-demokratischen Mehrheitsregimes, in dem die Interessen sehr vieler Menschen unberücksichtigt bleiben. Unser Prinzip ist der Konsens, nicht als Gleichschaltungs- oder Gleichförmigkeitsprinzip, sondern als Kommunikationsprinzip!
5. Attac kann uns gerne helfen, im gleichen Maße wie uns alle anderen Menschen helfen können. Nicht mehr, nicht weniger. Ich glaube, Sie haben in einem anderen Punkt Unrecht: Denn am allerwenigsten kann uns Attac mit „sinnvollen Forderungen“ oder „organisatorischer Kompetenz“ helfen. Was „sinnvoll“ für uns ist entscheiden die Menschen in der Asamblea, nicht Attac; organisatorisch wollen wir uns gerade von Attac unterscheiden, nicht von ihnen lernen. Auch bei diesem Punkt drängt sich mir die Frage auf, ob Sie wirklich im Kern verstanden haben, worum es uns geht. Vielleicht ist die beste Möglichkeit, dass Sie zu uns auf dem Platz der Republik kommen und sich aus der Nähe ansehen, was wir genau machen. Ich würde mich freuen!
6. Ich wäre die letzte Person, die über Gefahren der Vereinnahmung durch obskure oder rechte Gruppen hinwegsehen würde. Wir sind hochgradig sensibilisiert für Prozesse von Vereinnahmung im Allgemeinen und für Diskriminierung jeglicher Art. Gleichwohl haben wir auf Mechanismen kollektiven und kategorialen Ausschlusses verzichtet, denn wir möchten jedem Menschen die Chance geben, sich in der Asamblea selbst auf’s Spiel zu setzen. So wie wir es jeden Tag tun bzw. zu tun versuchen.
Zu guter Letzt möchte ich Sie herzlich dazu einladen, zu unserer täglichen Asamblea (ab 17 Uhr vor dem Reichstagsgebäude) zu kommen, um diese Frage zu diskutieren, nicht (unbedingt) als taz-Autor, sondern als Mensch. Es gibt keinen Ewigkeitsanspruch beschlossener Konsense und das „wir“ der Asamblea ändert sich mit jedem neuen Menschen, der zu uns stößt.
Mit freundlichen Grüßen
solarplexus
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anewsolarplexus.wordpress.com
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