Kommentar Merkel und Integration: Popanz Multikulti
Der Begriff "Multikulti" ist aus der Mode gekommen. Heute ist er nur noch ein Popanz für konservative Politiker, auf den diese rituell einschlagen, wenn sie sich nach Applaus sehnen.
Z ehn Jahre ist es her, dass Grünen-Chefin Renate Künast ihrer Partei empfahl, nicht mehr von "Multikultur" zu reden - weil der Begriff nicht erkläre "nach welchen Regeln wir leben". Seitdem ist das Schlagwort, das einst von Vordenkern wie Heiner Geißler oder Daniel Cohn-Bendit propagiert wurde, um völkischem Denken und Fremdenfeindlichkeit zu begegnen, spürbar aus der Mode gekommen. Heute ist "Multikulti" nur noch ein Popanz für konservative Politiker, auf den diese rituell einschlagen, wenn sie sich nach Applaus sehnen.
Merkel und Seehofer setzen dieses alte Spiel jetzt fort. Wenn sie statt "Multikulti" aber "mehr Integration" (Merkel) oder mehr "Leitkultur" (Seehofer) fordern, steckt in diesen Worthülsen genauso wenig Inhalt. Das populistische Wortgeklingel soll nur von ihrem Dilemma ablenken. Denn Wirtschaft, Industrie und FDP wollen Fachkräfte aus dem Ausland anwerben.
Doch diese Regierung kann nicht einerseits um ausländische Manager buhlen und zugleich Überfremdungsängste à la Sarrazin schüren. Und so sehr Merkel auch beschwört, die Qualifizierung von Einheimischen solle Vorrang haben - ein arbeitsloser Stahlkocher um die 50 lässt sich kaum noch zum IT-Experten umschulen.
Daniel Bax ist Redakteur im taz-Meinungsressort.
Vielen in der Union ist das bewusst. Sie wissen, dass sich Deutschland ohne Eingliederung seiner Einwanderer und geregelte Zuwanderung tatsächlich abschafft. Ursula von der Leyen und Anette Schavan, die jetzt sogar offen für den Zuzug qualifizierter Ausländer eintreten, schwebt dabei ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild vor.
Ironie der Geschichte: Genau diese Forderung kam zuerst von den Grünen. Doch Merkel und Seehofer werfen sich lieber noch einmal in rhetorische Schlachten, die längst in ihrem Sinne entschieden sind.
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