Kommentar Lohngerechtigkeit: Die Verfassung ernst nehmen
Lohnungerechtigkeiten lassen sich nicht per Gesetz im Handstreich lösen. Aber von der Schröder-Ära bis heute zeigt sich, dass "freiwillige Vereinbarungen" mit der Wirtschaft nicht helfen.
Heide Oestreich ist taz-Redakteurin für Geschlechterfragen.
Es ist Vorwahlkampf - und die SPD ist tatsächlich aus dem Knick gekommen. Zum "Equal Pay Day" überboten sich die Parteien mit Vorschlägen zu dem Problem, dass Frauen nur gut drei Viertel des Lohnes der Männer verdienen. Und die SPD ist ausnahmsweise mal in der Offensive.
So hatten schon im Vorfeld Parteichef Franz Müntefering und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier mit Gesetzen und Quoten gewunken, nun legt SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz nach: Die Antidiskriminierungsstelle und die Betriebsräte sollen in Firmen nachprüfen dürfen, ob Frauen schlechter bezahlt werden als Männer. Damit hat er die CDU-Frauenministerin Ursula von der Leyen locker überholt. Die nämlich stellte am Donnerstag einen Diskriminierungsselbsttest für Unternehmen vor, der aber selbstverständlich "freiwillig" sein soll.
Freiwillig oder mit staatlichem Zwang - das sind oft die Alternativen, wenn es um Frauen und Wirtschaft geht. Wer auf Freiwilligkeit setzt, umgeht viel Ärger mit der Wirtschaft. Deshalb setzte schon Gerhard Schröder 2001 statt auf das geplante Gleichstellungsgesetz lieber auf eine "freiwillige Vereinbarung". Auch von der Leyen holte für ihre Aktion die Arbeitgeber ins Boot. Dabei hätte sie von Schröder lernen können: Seit 2001 haben sich weder die Lohnstrukturen noch die Chefetagen wesentlich verändert.
Als Argument für die "sanfte" Variante gilt oft, dass strukturelle Hindernisse nicht mal eben per Gesetz zu beseitigen sind. Und es stimmt: Die Lohnlücke hängt auch damit zusammen, dass Frauen ihre Berufstätigkeit länger unterbrechen, weniger Überstunden machen und oft keine Leitungsposition anstreben. Das alles ist nicht per Gesetz im Handstreich lösbar. Aber diese Rollenerwartung sitzt eben auch in den Köpfen der Chefs, die Frauen dann tatsächlich oft unterschätzen. Wer diese Einstellungen "freiwillig" ändern will, wird nichts erreichen, weil die meisten Menschen sie überhaupt nicht wahrnehmen. Mit einem Gesetz hingegen würde der Staat gegen unseren verfassungswidrigen Zustand angehen. Im Grundgesetz steht nämlich zum Thema Gleichberechtigung: "Der Staat wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Zwei Tote und zwei Verletzte
Entsetzen nach Messerattacke auf Kinder in Aschaffenburg
Kommunikationswissenschaftler
„Fake News muss man schon glauben wollen“
1,5 Millionen Euro für die AfD
Unternehmer spendet Rekordsumme für rechte Hetze
Messerverbotszonen
Ein verzweifelter Versuch von Kontrolle
taz Talk über Friedenspolitik
„Sie denken nur in Raketen, Panzern und Bomben“
Aus dem Leben eines Landwirts
Gerhard versteht die Welt nicht mehr