Kommentar Krise in Großbritannien: Labour taumelt am Abgrund
Es könnte gut sein, dass Brown die kommende Woche nicht mehr als Premierminister übersteht. Ein politischer Neuanfang in Großbritannien ist überfällig.
Dominic Johnson ist Auslandsredakteur der taz.
Selten hat eine westliche Regierung ihren Zerfall so in die Länge gezogen, wie es gerade in Großbritannien zu bestaunen ist. Eine einst stolze Linkspartei, seit zwölf Jahren an der Macht, hofft bei Wahlen nur noch darauf, nicht vom dritten auf den vierten Platz abzurutschen. Ein Minister fordert den Regierungschef öffentlich zum Abdanken auf, um größeren Schaden abzuwenden. Ministerrücktritte in Serie machen die geordnete Kabinettsumbildung unmöglich, und wenn ein diskreditierter Minister seine Versetzung ablehnt, bleibt er einfach im Amt und beschädigt die Autorität des Premiers weiter.
Heute fährt der britische Regierungschef Gordon Brown in die Normandie, um an der Seite von Prinz Charles zusammen mit Barack Obama und Nicolas Sarkozy des D-Days von 1944 zu gedenken, des Starts der alliierten Landungen im deutsch besetzten Frankreich. Es ist vielleicht seine letzte Gelegenheit, die beiden noch einmal zu sehen. Wenn er nach London zurückkehrt, warten Europawahlergebnisse auf ihn, die noch verheerender ausfallen könnten als die Kommunalwahlergebnisse von gestern. Es könnte gut sein, dass Brown die kommende Woche nicht mehr als Premierminister übersteht.
Browns Rücktritt und schnelle Neuwahlen wären gut für das Land, dessen politikverdrossene Öffentlichkeit schon gefährlich grummelt. Ein politischer Neuanfang in Großbritannien ist überfällig. Aber es geht um mehr als um einen Machtwechsel. Der jüngste Spesenskandal im Parlament hat gezeigt, dass tiefgreifende Reformen im gesamten britischen Staatswesen nötig sind. Die politischen Strukturen müssen modernisiert werden, Zentralismus, Geheimniskrämerei und Autoritätshörigkeit gehören in die Schranken gewiesen.
Wer auch immer nach Brown in 10 Downing Street einzieht, er wird sich nur halten können, wenn er sich an die Spitze eines solchen Reformprozesses stellt, mit breiter Volksbeteiligung. Darauf hofften die Briten schon vor zwölf Jahren, als Tony Blair ein "New Britain" versprach. Umgesetzt wurde dieses Versprechen nie, und das wird nun Labour zum Verhängnis. Einen weiteren Verrat darf sich Großbritanniens politisches Establishment nicht gönnen.
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