Kommentar Kopftuchverbot in der Türkei: Eine Freiheit unter vielen
Die Freiheit an den Universitäten ist nicht nur durch das Kopftuchverbot eingeschränkt. Viel wichtiger sind die Einschränkungen in der Freiheit der Lehre.
Z wanzig Jahre nachdem das türkische Verfassungsgericht das Kopftuchtragen an den Universitäten des Landes verboten hat, sollen verhüllte Köpfe jetzt wieder zugelassen werden. Was die regierende AKP und die nationalistische Oppositionspartei MHP, die sie in der Kopftuchfrage unterstützt, als Sieg der Freiheit feiern, wird von der anderen Hälfte der Gesellschaft schlicht als Dammbruch gewertet. Erst fällt das Verbot des Kopftuchs an den Universitäten. Am Ende, so die Befürchtung der Kritiker, verlieren die Frauen in der Türkei die Freiheit, sich ohne Kopftuch zu bewegen.
Jürgen Gottschlich ist Türkei-Korrespondent der taz und lebt in Istanbul.
Zwanzig Jahre wurde über diese Frage erbittert gestritten, alle Argumente sind längst hundertmal ausgetauscht. Unterdessen hat sich der politische Islam, zumindestens in seiner moderaten Variante, Schritt für Schritt die parlamentarische Mehrheit erkämpft. Die Aufhebung des Kopftuchverbotes wird sich deshalb auch durch juristische Tricks oder gar Drohungen des Militärs auf die Dauer nicht mehr aufhalten lassen. Es wäre auch falsch, weil es der AKP weiterhin einen Opferbonus bescherte, der ihr längst nicht mehr zusteht.
Stattdessen muss die Regierung auf ihren Freiheitsdiskurs festgelegt werden. Die Freiheit an den Universitäten ist nicht nur durch das Kopftuchverbot eingeschränkt. Viel wichtiger sind die Einschränkungen in der Freiheit der Lehre und der Autonomie der Lehranstalten. Eine freiheitliche moderne Verfassung bedeutet auch Garantie der Meinungsfreiheit und die Freiheit der Entfaltung der ethnischen Minderheiten.
Die demokratische Bewegung der Türkei wird sich hoffentlich nicht länger durch die Kopftuchfrage spalten lassen. Stattdessen sollte sie die vielen Freiheitsrechte, die in der Türkei nach wie vor eingeschränkt sind, nun mit ebensolcher Vehemenz einklagen, wie die Religiösen für das Kopftuch gekämpft haben. Das wäre auch die beste Versicherung gegen ein neues, dieses Mal islamisch geprägtes repressives Regime. Die Gefahr einer De-facto-Islamisierung ist zweifellos vorhanden. Doch mit der Aufhebung des Kopftuchverbots würde auch endlich der Weg frei, die anderen, wichtigeren Fragen in den Vordergrund zu stellen.
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