Kommentar Integrationsverweigerung: Nützliche Schießbudenfigur
Nicht die Integrationsverweigerer gefährden Sozialsystem und Zusammenleben. Sondern jene, die den gesellschaftlichen Reichtum kräftig von unten nach oben verteilen.
J e ängstlicher der Bürger, desto schwieriger - weil irrationaler - wird das Geschäft der Politik. Wer in Zeiten des rasanten ökonomischen und sozialen Wandels dem Volk nicht nach dem Mund redet, der gerät schnell unter die Räder der Geschichte.
Glauben wir der massiven Medienberichterstattung der letzten Tage, dann ist die Sache klar: Nicht die Flucht der Eliten aus der sozialen Verantwortung beunruhigt und empört das deutsche Gemüt, sondern das Scheitern der Integration. Der malade Moslem, rückständig, gewalttätig und "gefährlich fremd", treibt die Republik offenbar an den Rand des Ruins.
Jüngst zauberte Innenminister de Maizière daher die Zahl "15 Prozent Integrationsverweigerer" aus dem Hut: Sie gilt es zu identifizieren und zu bestrafen. CDU-Politiker fordern dies nun, ebenso SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Eberhard Seidel ist Journalist und Geschäftsführer von "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage".
Wer will, der kann die Sache für einen Moment positiv betrachten und den "Integrationsverweigerer" als nützliche Schießbudenfigur sehen, die den Volkszorn kanalisiert. Das hält Überhitzte möglicherweise davon ab, auf eigene Faust loszumarschieren - wie damals, in den 90er Jahren, in Mölln, Solingen und anderswo.
Doch mit ihrem Kotau vor niedrigsten Instinkten treibt die politische Klasse ein riskantes Spiel. Denn nicht ein paar aufgedrehte türkische und arabische Jungmachos gefährden unser Sozialsystem und die Basis unseres Zusammenlebens. Sondern jene, die den gesellschaftlichen Reichtum kräftig von unten nach oben verteilen.
Jeder weiß es, aber zu wenige sagen es. Und weit und breit kein Politiker, der einräumt: Nicht die Migranten, sondern die Politiker selbst waren es, die sich über Jahrzehnte einer aktiven Integrationspolitik verweigert haben. Die Bilanz der letzten Wochen lautet: Deutschland debattiert sich dumm.
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