Kommentar Hartz IV: Was der Mensch zum Leben braucht
Nach dem Hartz-IV-Urteil müssen die Regelsätze neu berechnet werden - und zwar öffentlich. Künftig dürfte es eine Art öffentlicher Tarifrunde für Arbeitslose geben.
Bis Dienstag hatte eine Mehrheit der Bevölkerung wohl kaum eine Ahnung davon, auf welcher Grundlage die Höhe der Hartz-IV-Leistungen berechnet werden. Das ist bemerkenswert, denn für immerhin mehr als 6,7 Millionen Menschen in Deutschland sind die Regelsätze buchstäblich von existenzieller Bedeutung. Doch jetzt weiß man: Die Art und Weise, mit der das sogenannte Existenzminimum bislang festgelegt wurde, ist verfassungswidrig. Teilweise wurden die Leistungen eher willkürlich geschätzt, urteilte das Verfassungsgericht harsch.
Nun müssen die Regelsätze neu berechnet werden - und zwar öffentlich. Die Debatte über die Frage, ob zur Menschenwürde nun eine Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr oder die Bildungsausgaben für die Kinder gehört, rückt damit in die Mitte der Gesellschaft. Zum Glück.
Barbara Dribbusch ist Inlandsredakteurin der taz.
Bislang wird der Hartz-IV-Regelsatz nach dem "Statistikmodell" ermittelt: Man zieht die Verbrauchsausgaben des ärmsten Fünftels der Alleinstehenden in der Bevölkerung heran und leitet daraus das Existenzminimum der Erwachsenen und ihrer Kinder ab. Dieses Modell muss künftig leicht erweitert werden. Der Bedarf von Kindern etwa soll eigenständig berechnet werden: Da dürften Kosten für Bücher, Computer und Kleidung eine wichtige Rolle spielen. Und bei den Erwachsenen wird man jetzt zum Beispiel darüber streiten müssen, in welchem Umfang Geschiedene mit Umgangsrecht Sonderkosten gelten machen können. Künftig dürfte es also so etwas wie eine Art öffentlicher Tarifrunde für Arbeitslose geben.
Ob die Hartz-IV-Bezüge am Ende tatsächlich erhöht werden müssen, lässt das Gerichtsurteil offen. Das ist Sache der Politik, die um Verbesserungen vor allem für die Kinder aber kaum herumkommen wird. Mit seinem Urteil hat das Gericht die Debatte über die Höhe von Hartz IV zurechtgerückt. Das Wort "Lohnabstandsgebot" kommt im Urteil nicht vor. Dass ein alleinverdienender Familienvater, der zu einem Niedriglohn arbeiten muss, kaum mehr Geld nach Hause bringt, als eine vierköpfige Familie per Hartz IV erhält, interessierte das Gericht nicht. Richtig so. Denn über das Existenzminimum in Deutschland muss politisch gestritten werden. Über zu niedrige Löhne auch. Beides kann nun nicht mehr so leicht gegeneinander ausgespielt werden. Das ist ein Fortschritt.
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