Kommentar Hartz-IV-Debatte: Mit Kraft-Sprüchen aufs Glatteis
NRW-SPD-Spitzenkandidatin Kraft begibt sich mitten in ihrem Wahlkampf aufs Glatteis. Doch wer pauschal über Sozialmissbrauch redet, kann nur verlieren.
In der Debatte über Hartz IV gibt es eine merkwürdige Rollenverkehrung. Die FDP inszeniert einen Sozialpopulismus von oben, der dem Motto "Laut bellen, nicht beißen" folgt. Mit welchen drastischen Maßnahmen das Sozialsystem von lästigen Faulpelzen gesäubert werden soll, hört man von der FDP ja nicht. Das hat Methode. Westerwelle regiert, redet aber wie ein Oppositioneller. Er wird nie präzise, weil sich seine Vorwürfe dann als haltlos erweisen würden.
Hannelore Kraft, SPD-Chefin in NRW, macht nun das Gegenteil: Sie regiert zwar nicht, redet aber so, als würde sie dies tun und händeringend nach Lösungen für drängendste Probleme suchen.
Stefan Reinecke ist Inlandsredakteur der taz.
Kraft will, dass Langzeitarbeitslose im Altersheim vorlesen oder die Straße fegen. Was sie tun, ist eher nebensächlich - Hauptsache, sie zeigen Verantwortungsbewusstsein. Die SPD beteuert nun zwar, dass es ihr nicht um mehr Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger geht. Aber die Wortwahl legt nahe, dass hier Faulenzer auf Vordermann gebracht werden sollen. Das Ganze soll den Staat übrigens keinen Cent kosten und auch keine regulären Jobs gefährden. Wie dieses Wunderwerk genau vollbracht werden soll, weiß die SPD leider noch nicht.
Kraft sagte dem Spiegel zudem, dass es "Missbrauch" von Hartz IV gebe. Das stimmt. Aber wer pauschal über Sozialmissbrauch redet, begibt sich auf ein Feld, auf dem er nur verlieren kann. Denn das unscharfe Gerede vom ausufernden Missbrauch ist der Kern des aktuellen Sozialpopulismus. Dagegen helfen nur Tatsachen. So liegt, laut Bundesagentur für Arbeit, die Missbrauchsquote bei Hartz IV unter 2 Prozent - minimale Verstöße gegen Formalien inklusive.
Was Hannelore Kraft antreibt, sich mitten in ihrem Wahlkampf mit dürftiger Ausrüstung und zweideutiger Wortwahl aufs Glatteis zu begeben, ist unklar. Entweder hat sie die klammheimliche Absicht, mit ein paar markigen Worten bei jenen zu punkten, die glauben, dass Westerwelle zwar übertreibt, aber irgendwie doch recht hat. Oder es ist pure Naivität. Oder beides.
So oder so: Dies ist ein Lehrstück darüber, wie man dem aggressiven Sozialpopulismus nicht entgegentritt, sondern ihn verstärkt. Es zeigt, wie schwer es der SPD auch fünf Jahre nach der Agenda 2010 noch immer fällt, bei Hartz IV auch nur halbwegs den richtigen Ton zu treffen. Bessere Schützenhilfe kann sich die FDP jedenfalls kaum wünschen.
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