Kommentar Grünen-Parteitag: Ein bisschen Ehrlichkeit
Die Grünen wollen ihre eigene Klientel zur Kasse bitten. Eine Bürgerversicherung mit einer Beitragsbemessungsgrenze 5.500 Euro trifft die Besserverdienenden.
D ie Inszenierung war klar. Die Grünen sollten sich auf ihrem Parteitag als moderat, vernünftig und vor allem geschlossen präsentieren. Bloß kein Streit, denn das verschreckt womöglich das Publikum. Nicht zufällig traf man sich in Freiburg, das unspektakulär von einem bürgerlich-mittigen Grünen regiert wird. Im März wird in Baden-Württemberg gewählt, die Grünen wollen dort regieren. Der Parteitag sollte Kulisse der großen grünen Eintrachtshow werden. Es kam etwas anders.
Die grüne Basis hat keine Lust, bloß Staffage eines Politmarketing-Events zu sein. Das zeigte das Nein zur Winterolympiade in Garmisch. Dieses Nein ist peinlich für die grüne Chefin Claudia Roth, die prompt aus dem Olympia-Kuratorium zurücktrat. Es ist Munition für die Union, die die Grünen als Dagegenpartei verspottet. Aber dieses Nein ist ein Zeichen: Man will sich nicht dem Zwang beugen, die neue grüne Popularität bloß nicht durch Eigensinn zu gefährden.
Die wesentliche Botschaft von Freiburg lautet indes: Die Grünen wollen ihre eigene Klientel zur Kasse bitten. Die Bürgerversicherung mit einer Beitragsbemessungsgrenze von 5.500 Euro würde in der Tat viele grüne Besserverdienende treffen. Beamte und Architektinnen würden mehr, Friseure und Arbeiterinnen weniger zahlen. Es ist sympathisch, dass die Grünen für eine gerechtere Gesellschaft den Zuspruch ihrer eigenen Wählerschaft riskieren. Lieber etwas ehrlicher als nur populär.
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz.
Misstrauisch macht allerdings, dass dieser Beschluss wie ein halber Unfall wirkte. Die entscheidende Frage, wie hoch die Beitragsbemessungsgrenze liegen soll und wie heftig man also die eigene Klientel belasten will, debattierte man hektisch in ein paar Minuten. Die Grünen-Spitze beteuert zwar, über ausgefeilte Konzepte zu verfügen, doch so ist es nicht. Wie und wie viel die Grünen umverteilen wollen, ist unklar. Die Partei will auch Hartz IV erhöhen, milliardenschwere Sozialkürzungen rückgängig machen, der Green New Deal wird auch nicht billig. Und für die Schuldenbremse sind die Grünen selbstverständlich auch. Jeder weiß, dass all das zusammen kaum finanzierbar sein wird. Das grüne Gerechtigkeitsversprechen hat bislang etwas Wolkiges.
Die Grünen sind derzeit eine Projektionsfläche für unterschiedlichste Wünsche. In Freiburg haben sie diese Fläche verkleinert. Zumindest ein bisschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW