Kommentar Gas-Streit: Serbien rettet Sarajevo
Die Großstädter auf dem Balkan sind voll von der Gas-Misere betroffen. Dass ausgerechnet Serbien Gas nach Bosnien liefert, wurde als sehr positiv wahrgenommen.
D ie Machtspiele zwischen Ukraine und Russland haben zumindest auf dem Balkan die Menschen ein bisschen näher an einander rücken lassen. Zwar sind die Auswirkungen des Gasstopps für die meisten Menschen auf dem Lande nicht so gravierend, da die Öfen oder Kachelöfen dort wie anno dazumal Holz oder Kohle verbrennen und auch bei tiefsten Minusgraden wohlige Wärme verbreiten. Doch die Großstädter mit ihren auf Gas basierenden "modernen" Heizungssystemen sind voll von der Misere betroffen. Sie sind, wie in der Not üblich, jetzt ein wenig aneinander gerückt.
Erich Rathfelder, 60, betreut seit über 15 Jahren in dem Dreieck Berlin, Split, Sarajevo die Region Südosteuropa. Sein jüngstes Buch: "Schnittpunkt Sarajevo. Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach dem Krieg" (Schiler Verlag, 2006).
In Sarajevo wurden sofort Erinnerungen an den Krieg wach, als während der dreieinhalb Jahren dauernden Belagerung durch serbische Truppen und den bitter kalten Winter damals Anfang der 90er Jahre die Stadt völlig von der Versorgung abgeschnitten war. Dass seit dem Wochenende ausgerechnet Serbien Gas nach Bosnien und damit auch für die 72 000 vom Gas abhängigen Haushalte in Sarajevo liefert, wurde als sehr positiv wahrgenommen. Der serbische Präsident Tadic habe in kürzester Zeit Gas für alle organisiert, während die eigenen Politiker geschlafen haben, lautet nun die öffentliche Meinung.
"Die Serben" haben "uns" geholfen, die Hilfe wird wie auf dem Balkan üblich sofort als kollektive Tat angesehen. Man stellt sich gar nicht die Frage, woher Serbien das Gas bekommen hat. Dass es aus Westeuropa, aus Deutschland via Österreich und Ungarn auf den Balkan geliefert wurde und nicht nur für Serbien bestimmt war. Und, dass die Hilfe aus Belgrad so selbstlos gegenüber Sarajevo auch wieder nicht ist. Denn das Gas für Teile der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina muss ohnehin durch Sarajevo geleitet werden.
Doch das gemeinsame Schicksal verbindet wieder. Und die Interpretation des Vorgangs zeigt, wie tief der Wunsch in Sarajevo verwurzelt ist, endlich wieder "normale" und positive Verhältnisse mit den östlichen Nachbarn zu haben, von Serbien aus sogar umsorgt zu werden. Es wäre ja auch zu schön, wenn diese Hoffnungen der Realität entprächen.
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