Kommentar FDP und Steuern: Politik ist gebrochenes Versprechen
Regieren bedeutet, notfalls die eigenen Glaubenssätze über Bord zu werfen. Die Einführung einer Transaktionssteuer ist das für die FDP, was die Agenda 2010 für die SPD war.
S pätestens seit Dienstag ist klar, dass auch die FDP ein Grundgesetz der Politik nicht außer Kraft setzen kann: Regieren bedeutet, notfalls die eigenen Glaubenssätze über Bord zu werfen. Ein Außenminister der Grünen führte die Deutschen in ihren ersten Kriegseinsatz seit 1945, ein SPD-Kanzler räumte mit den Hartz-Reformen soziale Errungenschaften ab, eine CDU-Ministerin verbannte das konservative Familienbild in die politische Rumpelkammer.
Dass die FDP ausgerechnet zu dem Zeitpunkt an die Regierung kam, zu dem der Glaube an die freien Märkte geschwunden war - das ist vor diesem Hintergrund keineswegs ein Irrtum der Geschichte, sondern deren ausgleichende Gerechtigkeit. So gesehen ist dem Wählervotum vom Herbst eine Weisheit nicht abzusprechen.
Eine Mitte-links-Regierung hätte mit einer Regulierung der Finanzmärkte, wie sie jetzt in Deutschland und Europa wenigstens zaghaft in Gang kommt, den wütenden Protest nicht nur der Opposition, sondern auch des gesamten Wirtschafts- und Bankenmilieus heraufbeschworen. Jetzt ist es die FDP, die sich von ihrem eigenen Programm verabschieden muss. Sie tut es unter dem Zwang der Umstände, widerwillig und ohne jede argumentative Vorbereitung. Fast so abrupt, wie Gerhard Schröder einst seine Agendapolitik verkündete.
In beiden Fällen geschah der Kurswechsel unter dem Druck nicht nur eines drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs, sondern auch des befürchteten Machtverlusts. Anders als damals die SPD muss die FDP heute zwar die Fünfprozenthürde fürchten, mangels Masse aber nicht die Entstehung einer neuen Interessenpartei - zumal der Finanzbranche andere Kanäle der Einflussnahme offen stehen.
Die Forderung nach einer Transaktionssteuer ist vorerst nicht mehr als symbolische Politik, solange es auf internationaler Ebene keinen Konsens darüber gibt und die Europäer zu einem Alleingang nicht entschlossen sind. Aber auch Symbole sind eben Politik. Erstaunlich an der Situation ist vor allem die Blindheit, mit der sich die Akteure in diese Situation hineinbegeben haben. Das betrifft allerdings nicht so sehr die Bundeskanzlerin, die mit dem allseits geforderten Machtwort wenig ausgerichtet hätte. Es gehört zum Wesen von Lernprozessen, dass sie stets von innen kommen müssen. Die Häutungen der FDP sind also nur konsequent.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Treibhausgasbilanz von Tieren
Möchtegern-Agrarminister der CSU verbreitet Klimalegende
Ägyptens Pläne für Gaza
Ägyptische Firmen bauen – Golfstaaten und EU bezahlen