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Kommentar Ende des Grünen HöhenflugsTrügerische Umfragen

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Beim Grünen Wahlsieg in Baden-Württemberg kam vieles glücklich zusammen. In Berlin fehlen gleich mehrere Faktoren zu einem Erfolg für Künast.

B erlin ist nicht Baden-Württemberg. Dieser Satz klingt banal, aber er umreißt sehr genau, was die Grünen gerade schmerzhaft erfahren. Nach dem historischen Sieg in Stuttgart schien vielen Grünen alles möglich zu sein: die Machtübernahme in der Hauptstadt, ein eigener Kanzlerkandidat, Augenhöhe mit den Großparteien CDU und SPD. Doch der Berliner Wahlkampf mit der grünen Spitzenkandidatin Renate Künast zeigt, wie vorsichtig die Partei mit ihrem neuen Selbstbewusstsein umgehen muss. Und wie trügerisch Umfragen sind.

Bild: Anja Weber
Ulrich Schulte

leitet das Parlamentsbüro der taz.

In Baden-Württemberg kamen mehrere Faktoren zusammen, die den Sieg der Grünen ermöglichten: Winfried Kretschmann - bodenständig, katholisch, Mitglied im Schützenverein - passt zu dem Bundesland wie die Spätzlereibe auf den Kochtopf. Er profitierte von der Wechselstimmung im Ländle, und vom Grünen-Hoch infolge der Fukushima-Katastrophe im Bund. Künast kommt in Berlin nicht nur deshalb auf keinen grünen Zweig, weil sie mehrmals inhaltlich stolperte und ihr Typ nicht recht zum lässigen Lebensgefühl der Stadt passt.

Sondern auch, weil sie unter völlig anderen Bedingungen antritt. Gegen eine linke Regierung, gegen einen beliebten Amtsinhaber, ohne grünenaffines Großthema im Bund. Deshalb ist es wenig überraschend, dass sie in Umfragen immer weiter hinter die SPD zurückfällt. Im Moment spricht einiges dafür, dass Künast nach der Wahl nur zwei wahrscheinliche Machtoptionen hat: Entweder sie baut auf Grün-Schwarz mit einer gestrig und provinziell tickenden CDU, was in einer Stadt mit einer strukturellen linken Mehrheit ein beträchtliches Risiko wäre. Oder sie rät ihrer Partei zur Juniorpartnerschaft mit der SPD.

Von der Euphorie nach der Baden-Württemberg-Wahl - jetzt wird auch die Hauptstadt grün! - wäre in beiden Konstellationen nicht mehr viel übrig. Wenn sich also Lehren aus der speziellen Berliner Situation ziehen lassen, dann diese: Selbst ein Dauerhoch in den Umfragen ist vergänglich, und viele Faktoren bestimmen, ob es sich in Wahlergebnissen spiegelt. Oder, um es mit der derzeit angesagten Sprache der Märkte zu sagen: Die Grünen wurden lange über Wert gehandelt. Ihnen könnte nun, da es um Europa- und Finanzthemen geht, auch im Bund eine Abwertung bevorstehen. Denn in Krisenzeiten flüchten Wähler oft zu altvertrauten Parteien.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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1 Kommentar

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  • B1
    Bürger 1972

    Als eigentlich nicht TAZ-kompatibler Leser muss ich zunehmend eingestehn, dass das Niveau der TAZ - jedenfalss teiweise - steigt, was sich darin zeigt, dass sie im Gegensatz zu früher zu realitätsnäherer und objektiverer Berichterstattung fähig ist - sowie wie hier. Auch wenn dies vielen überzeugten TAZ-Lesern sicherlich nicht gefallen wird. Weiter so!