piwik no script img

Kommentar Ende des AusnahmezustandsEin ganz normaler Ausnahmezustand

Als die AKP an die Macht kam, war die sie stolz darauf, den Ausnahmezustand beendet zu haben. Heute ist sie die Partei, die den Ausnahmezustand normalisierte.

Eine Aufnahme von der Yüksel-Protestbewegung in Ankara, zu der auch der Soziologe Veli Saçılık gehört Foto: Murat Bay

Der Ausnahmezustand ist zu Ende gegangen, im neuen System verändern sich die Verhältnisse jedoch kaum. Warum zahlen Linke wie ich den Preis für den Putschversuch, wenn es doch niemand sonst als die Regierenden selbst waren, die jene als Putschisten bezichtigte Personen im Staat installierten? Hinzu kommt dass die Zuständigen, die den Coup hätten voraussehen und verhindern müssen, befördert und belohnt wurden.

Obwohl alle „Putschisten“ verhaftet und nur noch Regierungsanhänger auf der Straße sind, wurde der Ausnahmezustand von der AKP weiter als Instrument benutzt, um ihre Macht zu erweitern. Um das Bewusstsein in der Bevölkerung zu vernebeln und für Schweigen im Land zu sorgen, wurden die Bajonette des Militärs aus früheren Ausnahmezuständen durch die allgegenwärtige Gewalt der Polizei ersetzt. Als der Ausnahmezustand verhängt wurde, hieß es, er würde „nur kurz“ gelten, man würde die „Putschisten-Verräter“ bekämpfen und ihn dann gleich wieder aufheben. Letztendlich wurde der Ausnahmezustand sieben Mal um drei Monate verlängert. Am Ende hat er ganze zwei Jahre gedauert.

Vom Ausnahmezustand profitieren

Soldaten und Zivilisten, die etwas mit dem Putsch zu tun hatten, wurden verhaftet, darüber hinaus wurden aber auch 130.000 Angestellte ohne jede Ermittlung aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es heißt zwar, diese Maßnahmen würden sich gegen die Infiltrierung des Staates durch die Gülen-Terrororganisation richten, doch unter den Entlassenen sind auch 5.500 Mitglieder der linken Gewerkschaft KESK. Der Ausnahmezustand schaffte die Möglichkeit, Arbeitskämpfe per Gerichtsbeschluss verbieten zu lassen. Erdoğan sagte den Unternehmern: „Wir nutzen den Ausnahmezustand, um unverzüglich sämtliche Streiks zu unterbinden.“ Damit machte er deutlich, dass der Sonderstatus de facto nichts mit dem Putschversuch zu tun hatte.

Den Gerichten, auch dem Verfassungsgericht, wurden ihre Kompetenzen entzogen. Sie funktionieren nicht mehr. Es gibt keine einzige Instanz mehr, vor der die 130.000 Entlassenen, zu denen auch ich gehöre, ihr Recht einfordern könnten. Und die EU, die mit der AKP um Geflüchtete schachert, benutzt den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als eine Art Handelsgericht.Die Anträge wegen der Entlassungen in der Türkei wurden dort abgelehnt, die Antragsteller an eine „Ausnahmezustandskommission“ verwiesen, die keinerlei rechtliche Grundlage hat und keine Urteile fällen kann. Der Ausnahmezustand wurde benutzt, um etliche Menschen in Not und Unrecht zu stürzen.

Am 15. Juli 2016 konnte die Demokratie zwar einen „Sieg“ feiern, als der Putsch verhindert wurde – aber im Anschluss wurden Rechte und Freiheiten abgeschafft, die im Laufe von hundert Jahren mühsam errungen worden waren. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes wurde schließlich zwei Mal gewählt. Am Ende war das Ein-Mann-System abgesegnet. Und die Tatsache, dass das Kapital nicht in Länder investiert, die sich im Ausnahmezustand befinden, zwang die AKP nach zwei Jahren dann doch dazu, ihre Taktik zu ändern.

Ist der Ausnahmezustand beendet?

Der Ausnahmezustand wurde kein achtes Mal verlängert, aber die repressiven Maßnahmen dauern an. Unter dem Ausnahmezustand konnte ich nicht dagegen klagen, dass ich entlassen wurde. Auch künftig werde ich diese Möglichkeit nicht haben.

Als die AKP an die Macht kam, brüstete sie sich damit, den Ausnahmezustand aufgehoben zu haben, zum Beispiel 2002 in Diyarbakir. Jetzt ist sie die Partei, die den Ausnahmezustand zum Normalzustand gemacht hat. Wirtschaftlicher Druck und Unrecht werden aber naturgemäß zu gesellschaftlichen Spannungen führen. Derzeit wird der kleinste Protest mit Tränengas und Polizeiknüppel unterdrückt, dennoch wird es Widerstand in der Gesellschaft geben – auch wenn diese Gesellschaft gegenwärtig zum Schweigen gebracht zu sein scheint.

Napoleon Bonapartes Außenminister Talleyrand sagte einmal: „Mit Bajonetten kann man alles erreichen, aber man darf sich nicht darauf setzen.“ Wenn Mächtige es mit der Gewalt übertreiben, werden ihre bequemen Posten irgendwann zu Bajonetten. So viel Leid, wie der Ausnahmezustand und seine normal gewordenen Maßnahmen der Gesellschaft zufügen, so viel Furcht, Leid und Paranoia werden sie letztendlich auch der AKP bringen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!