piwik no script img

Kommentar: EU-FreizügigkeitEuropa schiebt Paranoia

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Ab 2014 steht Rumänen und Bulgaren der europäische Arbeitsmarkt offen. Zudem haben sie ein Recht auf Hartz-IV-Leistungen. Das schürt Ängste.

Kann die Debatte um Armutsmigration noch sachlich geführt werden? Bild: dpa

D er Countdown läuft: Am 1. Januar kommt die Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren im Arbeitsmarkt. Dann können diese EU-Migranten in Deutschland jeden Job annehmen – und ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen, wenn das Einkommen etwa eines Minijobs nicht für die Familie reicht.

Das schürt Ängste vor der Armutsmigration. Auch in Großbritannien kocht die Debatte, inwieweit EU-Einwanderer aus Südosteuropa weiter Sozialleistungen bekommen sollen.

Bedeutsam sind dazu neue Urteile wie das des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, das einer rumänischen Familie Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zuerkannte, das ihnen zuvor vom Jobcenter versagt worden war. Indirekt legte das Gericht dem Gesetzgeber auf, Möglichkeiten zu schaffen, Einzelfälle prüfen zu können.

Das Urteil, gegen das nun Berufung eingelegt wird, gibt die politische Richtung vor: Es muss mehr differenziert werden. Nur dann gibt es eine Chance, die Debatte zur Armutsmigration zu versachlichen. Wie sind die Aussichten eines EU-Migranten auf dem hiesigen Arbeitsmarkt? Wie ist das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sozialleistung in den ersten Monaten nach der Ankunft? Eine solche Differenzierung ist nötig, denn die Problemlage ist komplex.

Ja, es gibt Kommunen wie Duisburg mit den Wohnblocks armer Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien; diese Kommunen brauchen Unterstützung. Nein, die Zahl der Menschen aus diesen Herkunftsländern, die als Selbstständige ergänzendes Hartz IV beziehen, sind derzeit nicht hoch.

Es ist außerdem gar nicht leicht, in Deutschland einen Minijob zu bekommen, wenn man überhaupt kein Deutsch kann. Man kann also in Ruhe erst mal abwarten, was wirklich nach dem 1. Januar passiert. Und dann weitersehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • P
    PeterWolf

    Auch arme Osteuropäer verhalten sich rational.

    Wenn es in Westeuropa deutlich höhere Sozialleistungen gibt als in Osteuropa, werden viele Menschen das auch wahrnehmen. Würden wir ja genauso, alles andere wäre dumm!

    Da gibt es ergo nichts abzuwarten, entweder werden die Anreize, ins hiesige Sozialsystem einzuwandern, abgeschafft oder es müssen die Kosten dafür aufgebracht werden.

    Und wer erste nicht will, muss erklären, wer das letzte bezahlt.

    Wenn letzteres auf eine Kürzung der Sozialleistungen bzw. eine Erhöhung der Abgaben für hiesige raus läuft, wird das mit der Akzeptanz sehr schwierig.

    Noch ein dezenter Hinweis:

    Es geht nicht nur um Kindergeld und Hartz IV, es geht auch um Ansprüche auf unser Gesundheitssystem, und das wird richtig teuer.

    Wenn ich Rumäne wäre und schlechte Zähne oder gar Krebs hätte, einen krankenversicherter Minijob in Deutschland fände ich unwiderstehlich!

    Und irgendein Verwandter in Deutschland, der mir den pro forma gegen geringes Salär gibt, findet sich schon.

  • R
    Reiner

    'Verschwörungstheorie'?

     

    "EU-Freizügigkeit" - für Deutschlands Wirtschafts- und Profitinteressen!

     

    Richtig ist:

     

    Das "Hartz-IV"-System, der Mini-"Mindestlohn" - "8,50" (real um 8 Euro) verbindlich ab Januar 1917, und die (bundesdeutsche) Armuts-"Altersrente" für die Europäische (Wirtschafts-)Union Deutschlands.

     

    Wäre es nicht so, - die Übertragung auf die EU-Deutschlands, ein auskömmlicher Hartz-IV-Regelsatz läge heute bereits bei mtl. 650 Euro (Regelleistung ohne Miete und ohne Heizkosten), der Mindestlohn bei 15 Euro-Std. brutto, und die mtl. Mindestrente bei Netto: 1100 Euro (gesetzl. Grundsicherung).

     

    Das heutige "Hartz-IV"-System, der kommende Mini-"Mindestlohn" und die (heute für die BRD unsoziale) deutsch-europäische "Grundsicherung", dient zur ökonomischen Ausdehnung und/bzw. Erweiterung der deutschen Kapital- und Wirtschafts-Interessen in der Europäischen Union Deutschlands.

     

    Am Monopolyspiel - auf Kosten der Lebensqualität der bundesdeutschen Werktätigen - sind alle "Sozialpartner" der deutschen Finanz- und Monopolbourgeoisie beteiligt: BDA-BDI-CDU-CSU-SPD-Ministerien-DGB-'Sozialverbände'-Kirchen etc. pp.

     

    Aufwachen, brave Michels (?)

  • C
    Chris

    Tja, "es gibt nur wenige Hartz IV-Empfänger aus Rumänien und Bulgarien" ??

     

    Gut, wenn man die Fakten kennt und nicht einfach drauf los schreibt. Diese Meldung kam heute über den dpa-Ticker:

     

    "Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger aus Bulgarien und Rumänien steigt nach Medienberichten stark. Ende August bezogen rund 38 800 Menschen mit bulgarischem und rumänischem Pass diese Leistung, berichten die «Bild»-Zeitung (Dienstag) und «Focus online» unter Berufung auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg. Das sei eine Verdoppelung seit 2011. Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, hatte am Montag in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vor einer Zuwanderungswelle in das deutsche Sozialsystem gewarnt: «Wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle.»

     

    Der CDU-Rechtspolitiker Günter Krings warnte in der «Welt» (Dienstag): «Wir dürfen liberale Freizügigkeitsregelungen innerhalb der EU nicht mit hohen Sozialleistungen kombinieren. Sonst entstehen falsche Anreize, die zu einer Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme führen.» Der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl forderte in der Zeitung: «Wer tatsächlich gar keine Chance hat als Arbeitnehmer oder Selbstständiger tatsächlich erfolgreich tätig zu sein, ist nicht von der Freizügigkeit geschützt. Für diese Gruppe müssen Sozialleistungen ausgeschlossen sein.»"

    • S
      st
      @Chris:

      Sollte angesichts der genannten zukünftigen HartzIV-Bezugsberechtigung kein Zuzug stattfinden, so bin ich bereit an den Sonnenaufgang im Westen zu glauben.

  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    "... denn die Problemlage ist komplex."

     

    Um den kapitalistischen Komplexen im geistigen Stillstand mal auf die Sprünge zu helfen: Wir leben in der Globalisierung der "Dienstleistungsgesellschaft" (anderes Wort für Versklavung), da sind diese Integrierungsmaßnahmen notwendig um den hiesigen "Sozialstaat" kaputtzumachen, bzw. anzupassen, anders und somit schneller traut sich kein "Verantwortungsträger / Treuhänder" den Wohlstands- und Gewohnheitsmenschen diese Systemrationalität unterzujubeln, weil das System von "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" sonst womöglich auf dem Spiel stände!?

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @688 (Profil gelöscht):

      Stück für Stück "kommt man sich näher", so daß "Entwicklungshilfe" nicht mehr nur zur systemrationalen Problemlage in der Dritten Welt paßt, weil Armut dann auch überall bei uns ist, und gutbürgerlich-gebildete Suppenkaspermentalität nun auch entsprechende Suppenküchen hat, für die Entledigung von allzu offensichtlicher Heuchelei in Menschenwürde und Menschenrechte!?

  • G
    gast

    "Das Urteil,(...), gibt die politische Richtung vor"

    Ich finde es ziemlich bedenklich, wenn nicht gewählte Richter die politische Richtung vorgeben, ist dies demokratisch? Richter sollen Gesetze auslegen, aber nicht den gesellschaftlichen Diskurs voranbringen.

     

    "Ja, es gibt Kommunen wie Duisburg mit den Wohnblocks armer Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien; diese Kommunen brauchen Unterstützung. Nein, die Zahl der Menschen aus diesen Herkunftsländern, die als Selbstständige ergänzendes Hartz IV beziehen, sind derzeit nicht hoch."

    Wie hoch sind die Zahlen denn und wie hoch sind die Zahlen für Menschen aus diesen Ländern die ALG2 bekommen ohne Aufstockung? Es wäre guter Journalismus dies zu recherchieren und dann auch zu benennen.

     

    "Man kann also in Ruhe erst mal abwarten, was wirklich nach dem 1. Januar passiert. Und dann weitersehen."

    Das ist doch wohl immer die schlechteste Option, abwarten und Tee trinken, super Idee.

  • W
    Wolfgang

    Soziale "Ängste" können wir nicht leugnen. Dient doch auch das "Hartz-IV"-System in Deutschland zur weiteren Reduzierung der Arbeitslöhne und zur Beseitigung der Tarifbindung, bei gleichzeitiger Reduzierung der Tarifhöhe. -

     

    Ebenso, im Zusammenhang mit dem "Hartz-IV"-System, erfolgt mit der Öffnung des Arbeitsmarktes - für (noch) billigere Arbeitskräfte, die Weltmarktanpassung - auch für noch geringere Lohnkosten, trotz steigender Produktivität und Mehrwertschöpfung. (Diese Praxis wurde bereits in den 1960ern eingeführt, mit der Marktöffnung für sog. "Gastarbeiter" [- moderne Arbeitssklaven für die Bourgeoisie der BRD], die der BDI-BDA-Wirtschaft dazu dienten die Löhne weiter zu drücken. [Vgl. auch hierzu die Aussagen von Altkanzler Helmut Schmidt.: zur Funktion der ausländischen Arbeitskräfte; Kosteneinsparung für mögliche Modernisierungen durch billige ausländische Arbeitskräfte für die Deutsche Wirtschaft.]

     

    Anmerkung zu den realen Auswirkungen, - von Billigarbeitskräften aus aller Welt für den Profit des deutschen Kapital -, auf den bundesdeutschen Menschen- und Arbeitsmarkt:

     

    Als Erwerbsloser, noch nicht im Rentenalter, nach mehr als 45 Erwerbslebensjahren, davon mehr als 35 Jahre in Vollzeit, unter anderem als Facharbeiter und Meister, erklärte mir der Sachbearbeiter vom zuständigen "JobCenter" in Berlin: "Sie sind verpflichtet jede (zumutbare) Arbeit anzunehmen."

     

    Am Telefon erklärte eine BA-Mitarbeiterin auch sinngemäß schon einmal: "Sie müssen auch für weniger (als 35 Prozent vom Tariflohn) arbeiten".

     

    Weltmarktanpassung, auch der Arbeitslöhne nach unten, ist die Aufgabe aller spezialdemokratischen BDA-BDI-CDU-BA-SPD-DGB-"Sozialpartner" der BDA-Bourgeoisie und Quandtschen Erbschafts-Aktionäre! Auch dafür gibt es hohe Vorstands-Posten und Beamten-Pensionen!

  • A
    a

    Abwarten ist schon mal gut.

     

    Ist halt nur die Frage, worauf gewartet wird. Kommen sie oder kommen sie nicht? Kommen, bitte, bitte nur die Deutsch sprechenden Hochqualifizierten oder kommen eher die anderen?

     

    Reisefreiheit, Wahl des Arbeitsplatzes, Menschenrechte, Ökologie für alle, gleiche Rechte auch am Arbeitsplatz oder auch der geliebte absurde Konsum für alle,... sind halt eine ganz andere Nummer als das westliche Wohlstandsburgengeschwätz hinter der Wohlstandsburgenmauer. Die, wie man so hört, zumindest im Mittelmeer schon ganz "gut" ausgebaut ist. Ein Ulbricht wird nicht nochmal eine Mauer gegen die Hungerleider der Welt bauen.

    Der Westen hat mehr als nur ein Problem. Lese ich die offiziellen Meldungen, so scheint er das noch nicht mal begriffen zu haben.

    Also ich würde ja auch als Folge des Klimawandels u.a. dringend mit größeren Wanderungsbewegungen rechnen.

     

    Was tun? Abwarten?