Kommentar Dopingfall Johannes Dürr: Kein Schwarz-Weiß-Denken, bitte
Die Geständnisse des Skilangläufers Johannes Dürr zeigen: Die moralische Aufladung der Debatte überfordert SportlerInnen.
J ohannes Dürr hat von seiner Todessehnsucht erzählt, nachdem er bei den Olympischen Winterspielen 2014 im russischen Sotschi als Doper enttarnt wurde. Von der Scham und Angst heimzukehren nach Österreich zu den vielen Journalisten am Flughafen, zu den Bekannten, Verwandten und Eltern. Sportbetrügern schlägt eine moralische Verachtung entgegen, die sich existentiell bedrohlich anfühlen kann. Das sollte man Johannes Dürr ruhig glauben. Davon können auch viele andere Betroffene berichten.
Es ist wichtig, dies im Auge zu behalten. Denn seit Mittwoch schlägt dem Skilangläufer eine noch größere Verachtung entgegen. Und glauben wollen ihm viele eh nichts mehr. Der 31-Jährige räumte vor der Staatsanwaltschaft Innsbruck ein, bis zuletzt Blutdoping betrieben zu haben, parallel also zu seinen öffentlichkeitswirksamen Auftritten als Kronzeuge und geläuterter Sportsmann.
Erzählt hat Dürr von seiner Todessehnsucht nämlich erst kürzlich in der ARD-Dokumentation „Die Gier nach Gold“, die im Januar ausgestrahlt wurde. Zu einem Zeitpunkt, da er noch um die Wiederherstellung seiner Reputation kämpfte, von den Systemzwängen und Dopingpraktiken im Leistungssport berichtete, mit dem Schriftsteller Martin Prinz auf 350 Seiten sein Bemühen um ein sauberes Comeback dokumentierte („Der Weg zurück“) und selbst dafür öffentlichkeitswirksam via Crowdfunding Geld dafür eintrieb.
Dürrs doppelmoralische Darbietung ist fraglos ein Extremfall. Das spielt all jenen in die Karten, die lieber über Einzelfälle im Doping sprechen als über Systemzwänge. Dem Präsidenten des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV), Peter Schröcksnadel, kann das zum Beispiel gefallen. Zwar haben nachweislich wahre Aussagen von Dürr dazu geführt, dass zwei weitere dopende Langläufer beim ÖSV bei der Ski-WM in Seefeld aufflogen, doch dessen schwer zu belegende Behauptungen, beim ÖSV habe man wissentlich Doping geduldet, kann Schröcksnadel nun leichterhand als eine von Dürrs zahlreichen Irreführungen abtun.
„Doping-Drahtzieher statt Aufdecker?“ lautete eine Schlagzeile in der österreichischen Presse. Sie steht stellvertretend für das Entweder-Oder-Denken in der europäischen Doping-Debatte. Für einen wie Johannes Dürr, der Aufklärer und Vertuscher, Kronzeuge und Wiederholungstäter zugleich ist, gibt es da keinen Platz.
Dürr verweigerte sich dem Spiel
Auch die sich der Aufklärung verpflichteten Dopingberichterstatter neigen zuweilen zum moralisierenden Schwarz-Weiß-Schema. In der ARD-Doku wird Dürr die Eröffnungsfrage gestellt: „Sind sie ein ehrlicher Mensch?“ Und nach dem grundsätzlichen Bejahen des Befragten wird geradezu inquisitorisch nachgehakt: „Das was Sie uns sagen, ist die Wahrheit?“ Als ob derartige Fragen von Sportjournalisten geklärt werden könnten.
Hü oder hott, es ist auch diese extreme moralische Aufladung und Polarisierung der Dopingdebatte, die zu solch irren Verwerfungen wie im Fall Dürr führen können. Leistungssportlern wird immer wieder aufs Neue das Bekenntnis abverlangt, ob sie auf der guten oder auf der schlechten Seite stehen. Dabei wird oft vorausgesetzt, es handle sich um eine völlig freie Entscheidung.
Dürr hat sich den Regeln dieses Spiels verweigert. Er hat sich mal für die eine, mal für die andere Seite entschieden. Vor den Kameras hat er sich das weiße Büßerhemd angelegt und Täterwissen preisgegeben, auf Autobahnraststätten betrieb er wenig später sein nächstes Schurkenstück mit aufgepeppten Blutbeuteln.
Um die Illusion eines möglichen betrugsfreien Leistungssportbetriebs aufrechtzuerhalten, werden die Entweder-Oder-Fragen weiter gestellt werden. Und dieser schizophreniefördernde Druck wird wie in den letzten Tagen besonders bemerkenswerte Blüten treiben. Die Blutbeutel von Johannes Dürr trugen den Decknamen „Lucky Luke“, von dem belgischen Comic-Held also, der immer auf Seiten des Gesetzes steht und Verbrecher jagt.
Und die beiden bei der Ski-WM aufgeflogenen gedopten Langläufer Max Hauke und Dominik Baldauf haben schon sehr konkrete Zukunftspläne. Hauke möchte sich als Mediziner künftig um das körperliche Wohl anderer kümmern, und Baldauf träumt von einer Karriere als Polizeibeamter. Warum eigentlich nicht? Ihr Wissen, dass es mit der Moral nicht so einfach ist, könnte ihnen in ihrem weiteren Berufsleben helfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour