Kommentar Chile: In der Geisterbahn entgleist
Die Unfähigkeit der seit fast 20 Jahren regierenden Mitte-links-Regierung, ihre verkrusteten Strukturen aufzubrechen, ist Schuld an deren Niederlage.
N ach 1958 hat die chilenische Rechte erstmals gute Chancen, durch freie Wahlen das chilenische Präsidentenamt zu erobern. Stemmen sich die Chilenen damit gegen Lateinamerikas Linksrutsch der letzten Jahre? Nein, das nicht. Die Niederlage geht auf die Spaltung des linken Lagers zurück.
Die amtierende Präsidentin, die Sozialistin Michel Bachelet, hätte wohl schon im ersten Wahlgang gewonnen, doch die Verfassung erlaubte ihr keine zweite Kandidatur. Dass ihre Mitte-links-Koalition den blassen Eduardo Frei ausgemauschelt und ins Rennen geschickt hat, kam einem Betteln um die Niederlage gleich. Schon seine Wahlplakate ließen nicht an Aufbruch und Wandel, sondern an eine triste Fahrt in der Geisterbahn denken.
Nicht der rechte Gegenkandidat, sondern die Unfähigkeit der seit fast 20 Jahren regierenden Mitte-links-Regierung, ihre verkrusteten Strukturen aufzubrechen, führten zu deren Niederlage. Das zeigt der Erfolg des Außenseiters Marco Enríquez-Ominami: Weil der junge Linkspolitiker in seinem Lager keine Chance bekam, stieg er als unabhängiger Bewerber in das Rennen um die Präsidentschaft ein. Innerhalb weniger Monate konnte er 20 Prozent der Stimmberechtigten hinter sich versammeln: eine Sensation in Chiles fest zementierter Zwei-Koalitionen-Landschaft.
Jürgen Vogt ist Südamerika-Korrespondent der taz.
Ein rechter Präsident Sebastián Piñera wird diese politische Landschaft nicht umpflügen: Er steht für ein "Weiter so!" unter konservativen Vorzeichen und mit anderen Gesichtern. Viele Chilenen schauen deshalb schon jetzt nicht mehr auf die Stichwahl, sondern auf die Präsidentschaftswahl 2014. Hat da ein Neuling wie Marco Ominami das Fenster so weit öffnen können, dass frischer Wind durch die miefigen Parteizentralen der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialisten zieht?
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