Kommentar Burkini-Urteil: Im Zweifel für den Kompromiss
Schulpflicht wiegt schwerer als Religionsfreiheit, urteilt ein Gericht. Doch es nützt nichts, auf eine abstrakte Leitkultur zu pochen. Schulen sollten flexibel bleiben.
D as Gericht in Leipzig hat es sich etwas zu leicht gemacht. Die Schulpflicht wiegt schwerer als die Religionsfreiheit, befinden die Richter. Ein muslimisches Mädchen muss zusammen mit Jungs den Schwimmunterricht besuchen, auch wenn das seinen Eltern und ihm selbst widerstrebt. Ein Junge, dessen Familie den Zeugen Jehovas angehört, muss sich in der Schule den Film „Krabat“ ansehen, auch wenn den Eltern die schwarze Magie, die darin vorkommt, völlig unzumutbar erscheint.
Das Gericht hat beide Fälle am selben Tag verhandelt. Damit wurde deutlich, dass es nicht bloß um die Integration von Muslimen geht, sondern um eine grundsätzliche Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten: der individuellen Glaubensfreiheit, dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Bildungsauftrag der Schule. Das Gericht hat nun im Zweifel für die Schulpflicht votiert. Bisher konnten sich muslimische Mädchen vom Schwimmkurs befreien lassen.
Doch gelöst ist das Problem damit nicht. Fest steht zwar, dass eine plurale Gesellschaft verbindliche Regeln braucht, die für alle gelten. Doch solche Regeln müssen immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden, weil die Gesellschaft sich ständig verändert. Darum gibt es heute in manchen Schulkantinen kein Schweinefleisch, wenn die meisten Schüler das ablehnen. Und darum sind viele Schulen heute gezwungen, neben Weihnachten und Ostern auch auf andere religiöse Feiertage sowie auf Muttersprachen Rücksicht zu nehmen.
Mit einem Trend zum „Kulturrelativismus“, von Dogmatikern oft beklagt, hat das nichts zu tun, sondern mit Pragmatismus. Es nützt eben nichts, auf eine abstrakte Leitkultur zu pochen. Die Grenzen staatlicher Macht zeigen sich dort, wo Eltern ihr Kind von staatlichen Schulen abmelden und auf eine private Schule schicken, die ihnen eher entspricht.
Besser ist es, wenn alle Seiten aufeinander zugehen. Muslimische Mädchen können sich an den Anblick halb nackter Jungs in Badehose gewöhnen – so, wie sich nichtmuslimische Schüler an den Anblick von Mädchen im Burkini-Ganzkörper-Badeanzug gewöhnen sollten. Aber auch der getrennte Schwimmunterricht kann ein Kompromiss sein. Oder dass Lehrer vielleicht im Ausnahmefall auch mal auf „Krabat“ verzichten, wenn die Alternative heißt, dass ein Kind sonst „wegen Krankheit“ fehlt. Schulen sollten da flexibel bleiben können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid