Kommentar Bildungsstreik: Aufstand gegen Leistungsdruck
Der Protest der Schüler und Studenten ist eine gerechtfertige Repolitisierung einer als pragmatisch verschrienen Generation. Ignorieren kann die Politik die Proteste nicht.
Wolf Schmidt ist Inlandsredakteur der taz mit Schwerpunkt Bildung.
Es ist leicht, sich lustig zu machen über die demonstrierenden Schüler und Studenten, die mit Schildern wie "Chuck Norris schafft den Bachelor in Regelstudienzeit" auf die Straße gehen, während im Iran Zehntausende unter Lebensgefahr für mehr Demokratie demonstrieren. Man könnte ihnen vorwerfen, dass sie ohnehin nur egoistische Ziele verfolgen - mehr Lehrer, mehr Geld für die Universitäten, weg mit den Studiengebühren. Oder sich einfach mal einen Tag freinehmen, um auf der Straße ein bisschen Spaß zu haben.
Man kann das aber auch ganz anders sehen. Man kann in dem Protest der Schüler und Studenten so etwas wie eine zarte Repolitisierung einer als pragmatisch verschrienen Generation sehen. Sie eint das Gefühl, dass in den vergangenen Jahren Leistungsdruck und Anpassungszwang an den Universitäten und Schulen zugenommen haben. Und dass sie in dem Hamsterrad aus verkürztem Turboabitur und verschultem Schnellstudium kaum mehr Schritt halten können.
Bisher hat sich diese Generation abgestrampelt, ohne groß aufzumucken. Denn schließlich hatte sie ein Versprechen, das ungefähr so lautete: Wer die Anforderungen erfüllt, wer schon vor dem Abitur seine ersten Praktika absolviert und dann zügig studiert, dem ist der Aufstieg garantiert.
Nun in der Krise weiß keiner, ob das noch stimmt. Was bleibt, ist das dumpfe Gefühl: Wir tun alles, was ihr wollt. Und haben vielleicht trotzdem nichts davon. Es ist ein Rudern ins Ungewisse.
Da ist es fast schon zweitrangig, dass vieles von dem, was die Studenten fordern, realistischerweise nicht zu haben sein wird. Der Bologna-Prozess etwa, die europaweite Einführung der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge, wird von der Politik nicht vollständig zurückgenommen werden.
Studenten und Schüler haben das Problem, das alle Bildungsstreiks haben. Sie haben wenig Konkretes, mit dem sie drohen können. Anders etwa als die Müllmänner. Wenn die streiken, schreit das ganze Land auf.
Wenn einen Tag oder auch eine Woche lang Unis und Schulen bestreikt werden, tut das niemandem so richtig weh. Aber der Protest ist deswegen nicht falsch. Die Politik spürt den Unmut der Studenten und Schüler, der so groß ist wie lange nicht. Und sie weiß, dass viele Eltern das ähnlich sehen. Einfach ignorieren kann die Politik diese Proteste nicht.
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