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Kommentar BildungsreformBildungsferne ist kein Naturgesetz

Kommentar von Christian Füller

Wir wissen heute, wie Bildungsarmut zu bekämpfen ist: Konzentration der Ressourcen auf Brennpunktschulen. Dazu brauchen wir keinen Bericht.

D ie Bildungsrepublik ist in zwei Teile gespalten. Oben die Kinder der Bildungsbürger, die lernen, ihre Chancen wahrzunehmen: per Nachhilfe, höhere Schule, notfalls Privatschule, Abitur, Studium und so weiter. Und diese Chancen steigen, wie der neueste Bundesbildungsbericht 2012 zeigt. Glücklicherweise.

Aber eben nicht für alle. Denn der andere Teil der Bildungsrepublik ist unten. Er heißt familiäre Nachteile, Sonderschule, Sitzenbleiben, verhauene Schulabschlüsse, kurz: Bildungsarmut. Rund 20 Prozent gehören dazu. „Es gibt einen stabilen Sockel der Abgehängten“, warnen Forscher.

Vielleicht kann keine Gesellschaft Bildungsarmut ganz aufheben. Aber ein Potenzial von stabil rund 20 Prozent Jugendlichen, die nicht vernünftig lesen können, als eine Art gottgegebene Selbstverständlichkeit darzustellen, ist nicht akzeptabel. Es widerspricht allen ethischen wie demokratischen Werten – und auch der ökonomischen Vernunft.

taz
Christian Füller

ist Bildungsredakteur der taz.

Die Bürger müssen im Jahr zehn nach dem ersten Pisa-Test feststellen, dass eine verantwortungslose Schulbürokratie nicht die Bildungsarmut bekämpft, sondern die schlechten Nachrichten: Kultusminister, die Bildungsberichte manipulieren und Vergleiche verbieten. Konservative Feuilletons, die brabbeln, dass zu viele Kinder aufs Gymnasium gingen. Es ist in Deutschland salonfähig, übers Abitur bis zum Erbrechen zu disputieren – es aber schulterzuckend zur Kenntnis zu nehmen, dass die Zahl der Kinder ständig steigt, die nie eine andere als die Sonderschule besuchen. Was soll’s!

Nein, bildungsferne Schichten sind kein Naturgesetz. Sie werden von unfähigen Kultusbürokratien und abitursüchtigen Politikern gemacht. Solchen, die zulassen, dass viele unserer Schulen in Wahrheit Unterschichtsfabriken sind. Politikern, die es im 21. Jahrhundert nicht stoppen können, dass zehnjährige Kinder nach ihrer sozialen Herkunft aussortiert werden. Und das in einem Land, in dem die Hochqualifizierten im Minutentakt in Rente gehen.

Wir wissen heute, wie Bildungsarmut zu bekämpfen ist: Konzentration der Ressourcen, des neuen Lernens, der Sozial- und Sonderpädagogen auf die tausende von Brennpunktschulen. Dazu brauchen wir keinen Bericht, sondern eine wirklich demokratische Bildungspolitik. Es wird Zeit.

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14 Kommentare

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  • L
    Lehrerkind

    @Gerd: Irrtum, der Kuchen kann größer werden, wenn alle optimal gefördert werden. Produktivitätssteigerungen entstehen fast zwangsläufig, wenn eine fördernde Bildungspolitik konsequent durchgesetzt wird.

    Dazu gehört, sowohl die Starken als auch die Schwachen zu fördern, selbst wenn dadurch die Unterschiede in der Regel sich vergrößern.

    Dazu gehört auch, die Eltern in die Pflicht zu nehmen, die häufig einen Bildubgsaufstieg bewusst oder unbewusst verhindern.

    Auch wenn diese Erkenntnise nicht in jedes Weltbild passen und jetzt sicherlich gleich wortreich niedergebrüllt werden, erleben viele engagierte Lehrer tagtäglich genau das.

  • D
    Drifter

    @brandt:

    "sind zu verpflichten einen Teil ihrer Tests webbasiert für die Homework labs verfügbar zu machen.

    Wir brauchen Social Impact Bonds mit Performance Kennziffern wie man es vom Performance Contracting für Education aus den USA kennt. Die Bonds sind finanzierbar, wenn die Einrichtung gemeinnütziger Lotteries vereinfacht wird".

     

    Wer so formuliert, hat in Sachen "Bildung" nun wirklich ein Problem.

     

    Sprache = Denken.

     

    +++

    Drifter

  • HM
    Hannes Mayer

    Nein, Herr Füller, es wird nicht Zeit. Es war lange Zeit!

     

    Zeit, der politisch gewollten Installation eines "Niedriglohn" (=Armuts-) Sektors mit seinen absehbaren Folgen für gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit zu widrsprechen. Zeit, die Einführung einer Schule für Alle gegen reaktionäre Politiker und Eltern durchzusetzen. Zeit, die gezielte Verarmung der öffentliche Hand und der damit einhergehende Erosion ihrer notwendigen Aufgaben zu verhindern.

     

    Jetzt ist es an der Zeit festzustellen, welche Parteien, Medien und sonstigen gesellschaftlichen Kräfte dies frühzeitig taten, und welche lieber noch heute mit Rücksicht auf ihr wohlhabendes Klientel der Zerstörung des europäischen Sozialstaatsmodells das Wort reden. Siehe dazu auch S. 2 ff dieser taz...

     

    Hochachtungsvoll

     

    Hannes Mayer

  • M
    Mia

    Warum immer die Spaltung?

     

    Gibt es denn nur Abitur oder Sonderschule? Was ist mit Menschen mit mittlerer Reife und Ausbildung? Sind das jetzt auch schon bildungsferne Leute?

  • R
    Rollimops

    Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass Kinder mit Behinderung seit Jahrzehnten auf Sonderschulen geschickt werden, ganz egal, ob sie aus bildungsfernen oder -nahen Familien kommen. Immer noch sind wir von der Inklusion Lichtjahre entfernt. Ich habe es allein den Kämpfen meiner Mutter zu verdanken, dass ich auf eine Regelschule durfte und heute Akademikerin bin. Der Kampf fand Anfang der Siebziger statt, wo in etwa eine Hand voll rollstuhlnutzende Kinder dies in Deutschland durften. Dass wir heute nicht viel weiter sind, ist das eigentliche Armutszeugnis!

  • N
    Neo

    Vorbemerkung: Konzepte für ein individuelles Lernen sind alle bekannt (siehe skandinavische Bildungssysteme und ausgezeichente Leuchtturmschulen hierzulande)

     

    Wer hat ein Interesse daran das diese hohe Niveau von 20 Prozent besteand hat? Wenn der Erkenntnisstand da ist, wieso werden keine Konzepte entwickelt die diese Niveau innerhal von 10 Jahren halbieren!?

     

    Neo, die Unbestechlichen

  • W
    willy

    Genau, mehr Geld für die Doofen!

  • G
    Gerd

    Eine gerechte Bildungspolitik führt dazu, dass die Merkmale der Herkunftsfamilie an Bedeutung verlieren. Wer Chancengleichheit fordert sollte aber auch fragen, wieviel Konkurrenz gewünscht ist? Der Kuchen wird ja nicht dadurch größer, dass alle die optimale Förderung erhalten. Eine frühe Selektion begünstigt in jedem Fall jene, denen es jetzt schon gut geht - warum sollten die ihre Privilegien teilen? Freiwillig wird das nichts, das muss erkämpft werden: Auch Gerechtigkeit hatte schon immer ihren Preis!

  • B
    Brandt

    Die Konzentration der Ressourcen wird nicht reichen. Etwas muss sich in den deutschen Bildungswissenschaften ändern - und zwar an der internationalen Anschlussfähgikeit ihres Outputs. Es reicht nicht einfach nur quantitative Wissenschaft zu machen. Wir brauchen Feldforscher, Anthropologen und Ethnologen, die ins Feld gehen und nachsehen, wie Lernen funktioniert in den Milieus. Einfach Umfragen machen reicht nicht. Das Selbstverständnis des Faches sollte einmal generalüberholt werden. Die Grenzen staatlichen Handelns sind eng gesetzt. Viele prekarisierte Milieus gehen nicht mehr zur Wahl. Bildung muss also auch politische Bildung sein und die Verhältnisse durchsichtig machen.

    Sehr viele engagierte Mittelschichtsbezirke haben Kinder- und Schülerläden hochgezogen. Was wir benötigen, ist ein flächendeckendes Programm für Kinder- und Schülerläden. Demokratische Elternversammlungen werden gebraucht, um die Tagesbetreuung für diese Einrichtungen zu stellen. Es braucht nicht viel. Die Mietkosten können eingespart werden, wenn eine öffentliche Stiftung Träger wird. Die Betriebskosten können abgesenkt werden durch die politische Aushandelung von Sondertarifen.

    Die Nachhilfeindustrie muss zerstört werden, weil sie die Chancengerechtigkeit aushebelt. Wir brauchen einen öffentlich finanzierten Webtutor mit Nachhilfe-Clips und programmierter Instruktion, um die Elternarbeit und die Homework labs im Stadtteil und an den Schulen.

    Die Testproduzenten sind zu verpflichten einen Teil ihrer Tests webbasiert für die Homework labs verfügbar zu machen.

    Wir brauchen Social Impact Bonds mit Performance Kennziffern wie man es vom Performance Contracting für Education aus den USA kennt. Die Bonds sind finanzierbar, wenn die Einrichtung gemeinnütziger Lotteries vereinfacht wird.

  • S
    strooker

    Die von Hr. Füller geforderten Änderungen würden das bestehende Bildungssystem auf den Stand bringen, den es wohl schon vor Jahrzehnten hätte haben sollen. Allerdings wird damit nur nachgeholt, was in Sonntagsreden sowieso schon öfters propagiert wurde.

     

    Tatsache ist, dass das nicht reicht. Um konkurrenzfähig in der Exportwirtschaft zu sein, muss lernen ganz anders organisiert werden. Selbst nach abgeschlossenem Studium beginnt man im Betrieb bei Null, weil man zwar das Handwerkszeug jahrelang gelernt hat, aber das tatsächliche aktuell notwendige Wissen nicht parat hat. Im Grunde kommt man sich vor wie ein Depp, der gar nichts weiss, obwohl man jahrelang gelernt hat.

     

    Da die Exportwirtschaft unser Wirtschaftskatalysator ist, müssen wir entweder unser Bildungssystem radikal anpassen und auch den Älteren ermöglichen auf den neuesten Stand zu kommen, oder wir finden einen anderen Weg zu wirtschaften.

     

    Nützlich wäre es durchaus auch, den Kultuspolitikern die Macht aus der Hand zu nehmen - und die Entscheidungen in Gesellschaft und Wirtschaft und im Streit zwischen beiden zu finden. Die Politik erfüllt in Bildungs- und Familienpolitik nicht mehr das, was die Gesellschaft und die Wirtschaft von ihr erwarten.

  • FE
    Frau Edith Müller

    Man kann das Kamel zum Wasser tragen, trinken muss es alleine.

    Herr Füller, wenn heute ein Kind benachteiligt ist, dann das Kinder/ die Kinder der arbeitenden deutschen Mittelschicht.

    Begabtenfördrung in Deutschland? Komplette Fehlanzeige. Fragen Sie mal Eltern von hochbegabten Kindern, wie schwer denen das Leben gemacht wird, weil es in diesem dummen Staat IMMER nur um den "unteren" Rand geht. Bei fast allen hochbegabten Kindern entwíckelt sich die Hochbegabung zum Fluch, statt zum Segen. Legen Sie bitte Ihre ideologischen Scheuklappen ab.

    Und erkundigen Sie sich, welche Kinder Sprachförderung bekommen- Ausländerkinder; fragen Sie nach, für welche Kinder Förderunterricht an Grundschulen eingerichtet wird- für Ausländerkinder; einfach mal ein Lehrstellenangebot einer beliebigen Stadt lesen- auch da werden Ausländer bevorzugt. Gäbe es hier keine Moderation, würde ich deutlicher werden.

    Und Leute wie Sie würden, nur um Ihre besch*ssene Rente zu bekommen, die Umvolkung gerne vorantreiben. Aber diese Leute sind nicht hier, um Deutschen die Rente zu erarbeiten. Schlimm, dass Ihnen dieses Licht noch nicht aufgegangen ist.

  • N
    Nils

    20% bildungsmäßig abgehängte junge Menschen sind in der Tat ein Problem; auch volkswirtschaftlich gesehen, möchte man den Konservativen und Neoliberalen zurufen, die angesichts ihrer mangelhaften sozialen Kompetenz, geringem gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein und im Rahmen des Klassenkampfes von Oben gegen Unten darin kein Problem sehen bzw. sich für die Belange dieser Menschen nicht interessieren, haben diese doch nach Meinung der Schönen und Reichen ihre Lage angeblich selber zu verantworten. Mit sozialen Argumenten kann man dieser führenden Elite ja nicht beikommen, aber über den Gedanken an den eigenen Geldbeutel sind sie eventuell ja noch zu erreichen. Man appeliere also an diese Menschen, dass sie doch auch mal die Kosten bedenken mögen, die eine solche Entwicklung für die Gesellschaft bedeutet.

     

    Was mich interessiert, ist die Frage, wie sich die Zahl der abgehängten Jugendlichen in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat. Waren das schon immer 20% der Jugendlichen eines Jahrganges? Oder hat die Hauptschule vor 20-30 Jahren mal Jugendliche ins Leben entlassen, die besser lesen und rechnen konnten? Wenn ja, woran liegt das? Hängt das mit einer anderen "Lernkultur" zusammen? Mit einer anderen Stellung von "Schule" und "Familie"? Mit einem anderen "Zeitgeist"?

     

    Auf jeden Fall kann das Problem wohl nicht dadurch gelöst werden, dass man alle Problemfälle zusammen in eine Klasse sperrt und dann hofft, dass da eine positive, lernfördernde Atmosphäre entsteht, weil nun Kinder mit den gleichen, vielzähligen Problemen zusammen in einem Raum sitzen.

  • K
    Karl

    Doch!

     

    Genau das gehört zu den Grundlagen der Machtstrukturen in diesem Land, 20 % die eh ahnen das sie nichts wissen und der Löwenanteil vom Rest welcher rudimentäres Faktenwissen mit Bildung und der Fähigkeit zur Selbstreflektion verwechselt!

     

    Die sind und bleiben form- und lenkbar...

     

    Bildungsarmmut bekämpfen ist Terror!

     

    MfG KM

  • H
    Helga

    Sehr gut - stelle ich mir einen klugen, durchdachten, aber trotzdem linken Artikel vor. Was für eine Wohltat, auch einmal solche Artikel in der taz lesen zu dürfen - die Artikel bspw. zum Thema "Finanzkrise" sind alle geistig dermaßen schlicht und sachlich falsch, ich hatte ja fast schon den Glauben an die taz aufgegeben. Wäre sicher eine gute Idee, endlich mal die wirklich peinigend schlechte Berichterstattung zu Wirtschaftsthemen aufzugeben und stattdessen Kultur und Bildung in den Vordergrund zu stellen, vielleicht könnte das auch das Niveau des Politik-Teils mal anheben, das wäre nämlich nötig. Aber der Artikel hier ist ja wirklich gelungen - vor allem ohne diesen typisch-linken, nölenden Unterton, sondern lösungsorientiert. Gut so.