Kommentar "Bild"-Hetze: Konservativer Gesinnungsterror
Der umstrittene "Zeit"-Blog war vielleicht nicht geschmackvoll. Doch es gibt viele Gründe, sich gegen die selbstgerechte Empörung von "Bild" und "FAZ" zu stellen.
E inen ungewöhnlichen Beitrag zur aktuellen Debatte um jugendliche U-Bahn-Schläger lieferte jüngst der Feuilletonchef der Zeit, Jens Jessen. In seinem Videoblog stellte er die Frage, ob es hierzulande nicht "zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen und den Deutschen auch".
Daniel Bax ist Meinungsredakteur der taz.
Nein, besonders geschmackvoll war das nicht, zumindest nicht mit Blick auf den Vorfall in München. Aber auch kein Skandal, zumal ja einiger Grund zu der Annahme besteht, dass Jessen seinen Kommentar ironisch gemeint haben könnte. Dabei hätte man es bewenden lassen können.
Überhaupt keinen Spaß verstanden jedoch der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der sich als Erster auf Jessen stürzte, sowie die Bild-Zeitung, die das Zitat zum Anlass nahm, um ihn öffentlich an den Pranger zu stellen. Nur wenigen Lesern der Bild-Zeitung dürfte Jessen bislang bekannt gewesen sein oder dass er einen Videoblog betreibt. Nun wirft ihm ausgerechnet das Blut-und-Sperma-Blatt vor, das Opfer einer Gewalttat zu verhöhnen.
Es gibt viele Gründe, sich gegen diese selbstgerechte Empörung zu stellen. Nicht nur, weil sie von Bild-Chef Kai Diekmann und seinem Männerfreund Frank Schirrmacher gezielt geschürt wird, um einen alten Intimfeind zu denunzieren. Mit ihrem konzertierten Vorgehen stellen sie in Frage, ob es - zumal im spezifischen Rahmen eines Blogs - erlaubt ist, Ansichten zu äußern, die dem vermeintlichen Mehrheitsgeschmack widersprechen. Im Grunde richtet sich ihr Eifer damit gegen alle liberalen Stimmen, die nicht gewillt sind, in die von Bild, FAZ und Koch befeuerte Hysterie um "kriminelle Ausländer" einzustimmen. Das ist nichts anderes als konservativer Gesinnungsterror.
Jeder hat das Recht, Nonsens zu reden- auch Zeit-Redakteure. Andere tun das schließlich ständig. Gerade FAZ und Bild-Zeitung gehen in der aktuellen Debatte um Jugendgewalt ja selbst gerne bis an die Grenze des Zumutbaren, wenn nicht Justiziablen, indem sie rassistische Ressentiments bedienen. Dass hier die Empörung ausbleibt, sagt viel über die Stimmung im Lande.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“