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Kommentar Berliner VolksentscheidDas Misstrauen in den Senat bleibt

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Das knappe Scheitern wird die Debatte um die Höhe des Quorums wiederbeleben. Ist es gerecht, wenn mehr als 80 Prozent für etwas stimmen, aber dennoch scheitern?

R ekommunalisierung, Daseinsvorsorge, Stadtwerke, Ökologie – die Themen des Volksentscheids Energie in Berlin am Sonntag hätten kryptischer kaum sein können. Wahrscheinlich haben nicht alle, die am Sonntag ihr Votum abgaben, ganz durchschaut, was der abzustimmende Gesetzentwurf im Detail vorsieht. Dennoch: Der vierte Volksentscheid in Berlin war ein Erfolg – obwohl er nicht erfolgreich war.

Dass sich knapp 30 Prozent der Berliner Wahlberechtigten über die Zukunft ihrer Energieversorgung eine Meinung bildeten und diese an einem grauen Novembertag zum Ausdruck brachten, ist durchaus eine Überraschung. Es zeigt, dass die meisten eben doch begriffen haben, was zur Abstimmung stand: Es ging ums Heizen, Kochen, Duschen, wie viel wir dafür bezahlen und vor allem, wer damit Geld verdienen darf.

Und es ging um das Gefühl, dass der Berliner Senat nicht in der Lage ist, in diesen grundlegenden Fragen zufriedenstellende Antworten zu liefern. Zwar hat die Landesregierung vor zehn Tagen noch schnell ihre Version eines Stadtwerks durchs Parlament bugsiert. Aber offensichtlich zweifeln viele Wähler daran, dass es die rot-schwarze Koalition ernst meint. Die 24 Prozent, die mit Ja gestimmt haben, bleiben ein Misstrauensvotum gegen den Senat.

Die direkte Beteiligung der Bürger hat sich, auch das belegt dieser Sonntag, als politisches Mittel der Opposition etabliert: Schon 2011 beim thematisch ebenfalls komplizierten und sogar erfolgreichen Wasser-Volksentscheid hatte sich rund ein Viertel der Berliner gegen ihre – damals noch rot-rote – Koalition ausgesprochen.

Der Senat hatte die Gefahr erkannt und den Entscheid eben nicht zusammen mit der Bundestagswahl abgehalten. Erst das ermöglichte der Koalition, erneut auf eine geringe Beteiligung zu hoffen und die Teilnahme am Abstimmungswahlkampf zu verweigern. Das war ein Affront gegenüber jenen, die abstimmen gingen. Und letztlich auch schade, weil erst durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema dessen Dimension deutlich wird.

Das knappe Scheitern wird die Debatte um die Höhe des Quorums wiederbeleben. Ist es gerecht, wenn mehr als 80 Prozent für etwas stimmen, aber dennoch scheitern? Wenn eine Mehrheit keine Mehrheit mehr ist? Ehrlicher wäre es, wenn das Quorum ganz wegfiele und es bei einem Volksentscheid nicht um die beste Taktik ginge, sondern schlicht um die besten Argumente.

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Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
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15 Kommentare

 / 
  • MG
    michael graften

    Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Michael Müller (SPD), und der Senatsbaudirektorin Regula Lüscher bieten das Tempelhofer Feld zum Verkauf an trotz Volksentscheid und ausstehender Wahl .... das erinnert einen an das ausstehende Krimreferendum.

  • PP
    peter patent

    Netter Artikel, aber das Fazit halte ich für naiv.

     

    "... Ehrlicher wäre es, wenn das Quorum ganz wegfiele und es bei einem Volksentscheid nicht um die beste Taktik ginge, sondern schlicht um die besten Argumente."

     

    Was die Folge dessen wäre wurde schon geäussert:

    Jeder Hans und Franz fordert für sich und seinesgleichen Verbesserungen, die die Allgemeinheit nicht groß berührt und somit von der Wahlurne fern hält. Anschließend gehen nur Hans und Franz zur Wahl und die Sache ist beschlossen.

     

    Handelt es sich um eine aus dem Volk initiierte Volksentscheidung, bei der bereits eine gewisse Anzahl an Unterschriften von Wahlberechtigten innerhalb einer bestimmten Frist gesammelt und eingereicht werden musste, so stellt dies natürlich eine gewissen Hürde dar, die aber nicht ausreicht, dem Irrsinn Tür und Tor zu versperren.

     

    Diese Naivität hätte ich einem taz-Redaktionsleiter nicht zugetraut.

  • S
    Schöneberg

    Wenn es kein Quorum mehr gibt, werden nicht gewinnen, die die meisten Menschen überzeugen, sondern die, die einfach am lautesten sind und denen es mitunter eher um ihr Eigeninteresse als um Gemeinwohl geht, "Not in my backyard" lässt grüßen..wenn nicht einmal ein Drittel der Wahlberechtigten den Weg ins Wahllokal findet oder die denkbar einfache Möglichkeit der Briefwahl nutzt, scheint das Interesse an Mitbestimmung nicht so ausgeprägt zu sein.. auch darüber sollten all jene nachdenken, die Volksabstimmungen sogar auf der Bundesebene verankern wollen.

  • J
    Jajaja

    Hahaha -- klingt, als ob da jemand schwer enttäuscht wäre. Wichtig ist nicht, was Peter Haller oder seine 24,1% Berliner Freunde denken. Wichtig ist, was der Souverän entscheidet und wenn ich anmerken darf: klarer hätte er sich kaum ausdrücken können: es es ihm nicht wichtig, mithin egal, wer ihm den Strom verkauft und sieht nicht vor allem keinen Grund seinen Repräsentanten in die Parade zu fahren.

  • PH
    Peter Haller

    @TIM LEUTHER

    Man, sei doch froh, dass alles so gelaufen ist, wie du dir's gewünscht hast und lass uns mit deinen "Analysen" in Ruhe.

    Mir sind jedenfalls allemal die Leute lieber, welche sich für etwas Sinnvolles einsetzen und dafür auch den Arsch hochkriegen !

    Und ja, dass 30% eine Meinung haben ist sehr schön ! Dass 70% lieber auf der der Mutter oder der Couch liegen geblieben sind ist zwar legitim, zeugt aber auch davon, was in Merkel-Deutschland mittlerweile Priorität hat. Und es ist sehr wohl wichtig, was man für heizen, kochen, duschen bezahlt, aber es ist auch wichtig zu wissen, wem man die Kohle in den A.... bläst.

    Und das scheinst du nicht kapiert zu haben !! Und jetzt kannst du dich wieder hinlegen. Du hast dein Recht auf Faulheit, nimm es dir, Souverän !!!

  • K
    Kritiker

    @Tim Leuther

     

    Und jetzt bitte noch eine Argumentation, warum ein Senat, der von 30% der Wahlberechtigten gewählt wurde, demokratisch legitimierter sein soll.

  • D
    DJ_rainbow

    Man stelle sich - nur für einen Moment - mal vor, genau dieses Ergebnis wäre bei einem Volksentscheid rausgekommen, wo es um ein Asyslbewerberheim geht.

     

    Würden die taz*Innen dann auch die Frage stellen, ob das gerecht ist?

     

    Solange es "euch" nicht darum geht, den Willen der Bürger zu erforschen und umzusetzen, sondern ausschließlich darum, die Bürger für eure Ideologie zu missbrauchen, seid ihr keine vernünftige Option.

  • R
    Robert

    Ich stimme Tim Leuther absolut zu. Auch Linke müssen einsehen, dass über 75% der BerlinerInnen eben nicht von diesem waghalsigen Gesetzentwurf überzeugt waren, und entweder mit Nein oder gar nicht gestimmt haben.

    Volksentscheide sind nicht per se besser oder demokratischer. Wenn 20% gut gebildete und engagierte BürgerInnen die anderen 80% faulen, weniger gebildeten oder abgeneigten Menschen überstimmen könnten, wäre das tutiefst undemokratisch. Demokratische Prozessqualität bemisst sich nicht nur am Input, sondern auch an der Güte des deliberativen Diskurses und der Rücksicht auf die Betroffenen. Wenn das Quorum wegfiele, würden sozial schwache, MigrantInnen, Kinder und andere Gruppen völlig von der demokratischen Beteiligung abgehängt. Wir wählen und bezahlen 150 Berufspolitiker, damit sie sich Gedanken zu fachlich komplexen Themen machen und im Sinne des Gemeinwohls entscheiden.

  • Textanalyse

    "Dass sich knapp 30 Prozent der Berliner Wahlberechtigten über die Zukunft ihrer Energieversorgung eine Meinung bildeten und diese an einem grauen Novembertag zum Ausdruck brachten, ist durchaus eine Überraschung. Es zeigt, dass die meisten eben doch begriffen haben, was zur Abstimmung stand: Es ging ums Heizen, Kochen, Duschen, wie viel wir dafür bezahlen und vor allem, wer damit Geld verdienen darf."

     

    a) 30% sind die Meisten.

    b) Heizen, Kochen, Duschen, und wie viel wir dafür bezahlen ist nicht wichtig.

  • Das ist doch lächerlich. Die Quoren schutzen uns vor überengargierten Minderheiten, die dann einfach Gesetze machen. Der Souverän hat das Recht auf gewisse Faulheit. Und wer mit einem Anliegen nur 24% überzeugen kann, im Netz sich Brirfwahlunterlagen schicken zu lassen und 2 Tage später zum Postkasten zu laufen - der hat eben ein Anliegen das nicht wichtig genug ist, die Ansichten eines demokratisch gewählen Abgeordnetenhauses zu überstimmen.

    • R
      runzbart
      @Tim Leuther:

      rechnen wir das mal um:

      bei einer wahlbeteiligung von knapp 60% haben spd 28,3% und cdu 23,3% bekommen. macht eine zustimmung von 17% aller wahlberechtigten für die spd und 14% für die cdu.

      31% aller wahlberechtigten billig(t)en den senat. 24% sollen aber nur eine überengagierte minderheit bilden.

      jetzt fehlt eigentlich nur noch die singende frau nahles um ihren kommentar zusammenzufassen.

      • T
        Thomas
        @runzbart:

        Danke, dem ist nichts hinzuzufügen!

  • K
    Kurt

    Es haben ja lediglich 80% der ABGEGEBENEN Stimmen mit "Ja" gestimmt. Nicht hinzugehen ist eine klare Absage. Das Quorum anzupassen gibt Minderheiten einen unsinnigen Vorteil über Mehrheiten. Ich würde mich ungern zwingen lassen, zu einer Wahl zu gehen, nur um mit "Nein" zu stimmen. Wenn der Großteil kein Interesse an einem Volksentscheid hat, so ist es irrelevant wie innerhalb einer Minderheitsgruppe abgestimmt wurde.

  • I
    inflexible

    Ich bin für ein Quorum. Damit nicht eine winzige Minderheit von selbst ernannten Aktivbürgern ihrer passiven Mitmenschenschaft ihren Willen aufzwingt. Kein Quorum ist ein Freibrief für die Unterhöhlung der repräsentativen Demokratie. Die Höhe des Quorums ist hingegen eher eine Frage, über die es sich nachzusinnen lohnt.

  • T
    Tempelhof

    Klang beim Flughafen Tempelhof irgendwie anders.