Kommentar Atomenergie: Energiewende vorleben
Was bringt unser feiner Atomausstieg, wenn in den Nachbarländern die Meiler weiterlaufen? Es hilft aber nichts, sie belehren zu wollen.
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E s ist ein Irrsinn. Jeder kleine Gartenbesitzer sollte seine Nachbarn um Erlaubnis fragen, wenn er einen größeren Schuppen bauen will. Der könnte ja die Aussicht stören und zu Klagen führen. Gleichzeitig darf jedes Land weiter direkt an seinen Grenzen einfach so Atomkraftwerke hinstellen, auch in der EU.
Und das, obwohl die Reaktoren im Schadensfall je nach Windrichtung auch die Menschen in den Nachbarländern existenziell bedrohen. Niemand kann etwa die Tschechen daran hindern, ihrem Pannenkraftwerk Temelín zwei weitere hinzuzufügen. Entfernung nach Deutschland: 60, nach Österreich 50 Kilometer.
Da fragt man sich als besorgter Bürger: Muss das einfach hingenommen werden? Was bringt unser feiner Atomausstieg, wenn ringsum die Meiler weiterlaufen? Kann unsere Regierung da nichts tun? Leider wenig. Die Deutschen haben schließlich früher auch nicht nachgefragt, ob es die atomfreien Österreicher stören würde, wenn die Kraftwerke Isar I und II ihr schönes Tirol verstrahlen.
Hilft also nur beten, dass nichts passiert? Und was sollen dann Atheisten tun? Jedenfalls nicht auf die EU hoffen. Im Gegenteil: Würde man zur Zukunft der Atomkraft europaweite Regeln ausverhandeln, wäre der kleinste gemeinsame Nenner eher ein Ausstieg im Jahr 2095 als der deutsche Ausstiegsplan. Die „German Angst“ vor der Atomkraft ist für viele Europäer auch nach Fukushima noch ein Fremdwort. Aber nicht für alle. Und hier kann man ansetzen: So hat der gemeinsame Protest deutscher und französischer Aktivisten ein klein wenig dazu beigetragen, dass das Uraltkraftwerk Fessenheim am Rhein 2016 abgeschaltet wird.
Der wichtigste deutsche Beitrag zum gesamteuropäischen Atomausstieg wäre aber eine gelungene Energiewende im eigenen Land. Die Deutschen sollten ihre Nachbarn nicht wieder belehren, sondern einfach den Beweis erbringen, dass ein Industrieland gut ohne Atomenergie auskommen kann. Auch daran möge man denken, bevor man sich zu sehr über die nächste Strompreissteigerung um 2,50 Euro im Monat aufregt.
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