Kommentar Armutsbericht: Arm dran in Deutschland
Die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich immer weiter. Das Beuruhigende daran: Eine Trendwende zeichnet sich nicht ab - vor allem nicht durch weniger Steuern oder weniger Staat.
Stefan Reinecke ist Redakteur im Parlamentsbüro der taz.
Die bundesrepublikanische Gesellschaft franst sozial aus. Es gibt mehr Reiche und vor allem mehr Arme. Die Mittelschicht, die das selbstverständliche Fundament der Republik war, schwindet. Das ist nun amtlich. Es steht im neuen Armutsbericht der Bundesregierung. Wie einschneidend ist das? Und: Was folgt daraus?
Wenn man den europäischen Maßstab anlegt, besteht kein Anlass zum Katastrophismus. Die soziale Kluft in Deutschland ist zwar tiefer als in Skandinavien, aber nicht so tief wie in Frankreich oder Großbritannien. Auch den heutigen Rentnern geht es eher gut. Allerdings gibt es eine Tendenz, die seit dem Jahr 2000 erschreckend zugenommen hat: Wer Kinder allein erzieht, wer arbeitslos ist oder zu den Geringverdienern gehört, wird schneller arm. Die working poor, die man vor zehn Jahren hierzulande noch für ein schrilles Symptom der Ungerechtigkeit des US-Kapitalismus hielt, sind mittlerweile deutsche Realität.
Was tun? Die Union meint, dass Sozialbeiträge und Steuern sinken müssen, damit die Armut abnimmt. Das klingt gut - aber nur für die Mittelschicht. Den Armen bringt es nichts. Denn wer keine Steuern zahlt, hat auch nichts von Steuersenkungen. In diesem Punkt ist der Armutsbericht in der Tat aufschlussreich. Er zeigt klipp und klar, was bis Ende 2005, also unter Rot-Grün, geschah. Rot-Grün hat die Einkommensteuern drastisch gesenkt, die Zahl der Armen stieg gleichwohl an. Insofern ist "Steuern runter" ein Slogan für Wahlkämpfe, aber kein brauchbares Konzept der Armutsbekämpfung.
Die SPD hingegen setzt auf den Mindestlohn. Das ist richtig, weil der Niedriglohnsektor boomt und viele arm sind, weil sie nur ein paar Euro in der Stunde verdienen. Aber das gilt keineswegs für alle working poor. Viele verdienen mehr als 8 Euro in der Stunde - und gelten dennoch als arm, weil sie Kinder haben.
Kurzum: Das soziale Gefüge wackelt. Wirklich alarmierend ist - und da hilft auch kein beruhigender Blick auf die EU-Nachbarn mehr - die Aussicht, wie es weitergeht. Die Kluft zwischen Reich und Arm vertieft sich seit Jahren - und eine Umkehr dieses Trends ist nicht absehbar. Klar ist: Weniger Steuern und weniger Staat helfen dagegen nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vor der Bundestagswahl
Links liegen gelassen
Spendenrekord im Wahlkampf
CDU bekommt fast zehnmal so viele Großspenden wie SPD
Evangelische Kirche im Osten
Wer will heute noch Pfarrer werden?
Forschung zu Klimabewegung
Wie radikale Gruppen der Klimabewegung nutzen
Mögliches Ende des Ukrainekriegs
Frieden könnte machbar sein
Debatte nach Silvester
Faeser und Wissing fordern härtere Strafen