Kommentar Arbeitslosenzahlen: Auch eine Art der "Entschuldung"
Die Finanzkrise wirkt sich erstmals auf den Arbeitsmarkt aus. Nun wird es schwieriger, betroffene Bevölkerungsgruppen wegen Arbeitslosigkeit sozial auszugrenzen.
Barbara Dribbusch ist Inlandsredakteurin der taz.
Endlich, mag vielleicht mancher am Mittwoch heimlich gedacht haben. Wie eine Regenfront, die schon lange angekündigt und nun angekommen ist, stimmt der Trend bei den Arbeitslosenzahlen erstmals mit den düsteren Prognosen überein, die schon seit Wochen in das Land ziehen. Im Dezember ist die saisonbereinigte Zahl der Erwerbslosen gestiegen. Damit stimmt das Weltbild wieder: Eine reale Wirtschaftskrise fordert Arbeitsplätze. Psychologisch stellt sich die Frage: Wird nun die Arbeitslosigkeit wieder mehr zu einer kollektiv erlebten Erfahrung?
Die Zahlen sind zwar nur mitteldramatisch. Das Wirtschaftsinstitut DIW erwartet bis zum Jahre 2010 rund 450.000 Arbeitslose mehr. Das ist immer noch sehr wenig im Vergleich zum Zusammenbruch der Beschäftigung im Osten nach der Wiedervereinigung, der ganze Generationen in diesen Regionen bis heute verbittert. Doch das Erleben der Krise wird sich vervielfältigen, denn die Frage, wen sie treffen wird, ist so offen wie schon lange nicht mehr.
Die Automobilindustrie in Süddeutschland, viele mittelständischen Unternehmer mit komplizierten Kreditfinanzierungen leiden. Es steigen die Kurzarbeit und die Arbeitslosigkeit aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, während die Langzeitarbeitslosigkeit bislang kaum zunimmt. Auch ist der Westen stärker betroffen als der Osten. Hartz-IV-Empfänger profitieren sogar ein bisschen von der moderaten Preisentwicklung.
Wenn Auswirkungen der Krise auch Bessergestellte treffen können, dann ist es nicht mehr so leicht, betroffene Bevölkerungsgruppen deswegen moralisch auszugrenzen. Es gab zuletzt eine Studie des Mannheimer ZEW-Instituts, wonach in Abschwungzeiten Erwerbslosen weniger unterstellt wird, sie seien selbst verantwortlich für ihr Schicksal. In vielen Milieus könnte die Krise eine ähnliche moralische Entlastung für Jobverlust und Firmenpleiten mit sich bringen. Eine solche "Entschuldung" durch die Kollektive wäre eine der interessanten Nebenwirkungen der Krise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Altkleider-Recycling
Alte Kleider, viele Probleme
CDU will „Agenda 2030“
Zwölf Seiten rückwärts
Israelische Angriffe auf Gaza
Können Journalisten Terroristen sein?
Verteidigung, Trump, Wahlkampf
Die nächste Zeitenwende
„Agenda 2030“ der CDU
Staatliches Armutsprogramm
Fridays for Future
Neuer Treibstoff für die Bewegung