Debatte Ungarns rechte Regierung: Die verwahrloste EU

Rechtspopulismus regt in Europa niemanden mehr auf. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nutzt diese selbstgenügsame Blindheit gnadenlos aus.

Viktor Orbán baut den ungarischen Staat zur Autokratie um, kritisieren Intellektuelle wie György Konrád. Bild: reuters

Die ungarische Regierungskoalition hat unlängst mit ihrer Zweidrittelmehrheit die Immunität des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány aufgehoben - mit 306 gegen 52 Stimmen. Diesem wird "Amtsmissbrauch" wegen seiner weithin üblichen Schuldenpolitik vorgeworfen.

Der amtierende Ministerpräsident Viktor Orbán sieht in der gestiegenen Staatsverschuldung ein "politisches Verbrechen". Damit ließe sich jede Regierung vor Gericht bringen. Rückwirkende Strafen sind nach dem Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" indiskutabel. Trotzdem erheben sich in den europäischen Hauptstädten, im EU-Parlament und in der EU-Kommission keine Proteste gegen die Verletzung dieser elementaren Rechtsregel.

Rechte haben Narrenfreiheit

Als Wolfgang Schüssel von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) vor elf Jahren, nämlich im Januar 2000, mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) des Rechtsradikalen Jörg Haider eine Koalition einging, provozierte das laute Proteste von Politikern und Medien - noch bevor die Koalition ihre Regierungsgeschäfte richtig aufgenommen hatte. Alle bilateralen Kontakte zu Österreich wurden über Nacht auf die "technische Ebene" zurückgestuft. Dieser diplomatische Theatercoup galt allen als "Sanktion"; dabei war es nur ein Wedeln mit der gelben Karte. Doch immerhin, es gab Proteste und es gab Kritik. Eine Kommission unter dem Finnen Martti Ahtissari prüfte anschließend das Verhalten der österreichischen Koalitionsregierung und empfahl bereits im September 2000 die Aufhebung der "Sanktion".

Heute sind die EU, die nationalen Regierungen und die Öffentlichkeit durch die Regierungsbeteiligung der Rechten in Dänemark und die Rechtstrends in anderen Ländern in ihrer rechtlichen und politischen Sensibilität erheblich abgestumpft.

Der Schlag ins Wasser im Falle Österreichs hat die Helden der "Rechtsgemeinschaft" und die Sprecher aller Regierungen in Europa verstummen lassen - auch über das, was momentan in Ungarn geschieht. Und so kann Viktor Orbán und seine rechte Regierung im Windschatten des Arabischen Frühlings, der Schuldenkrisen von Griechenland bis Irland und der Eurokrise in aller Ruhe zu einem "autoritären Staat mit einem Ministerpräsidenten als Alleinherrscher" (György Konrád) umbauen.

Die Anklage gegen Gyurscány ist mit den Verabschiedungen eines neuen Grundgesetzes, eines neuen Mediengesetzes und des Staatsbürgerschaftsgesetzes der vierte Streich, mit dem Ungarns Demokratie ausgehebelt wird. Und immer versandete die kurz aufbrandende internationale Kritik ohne jede Folge. Das ist blamabel für die EU; als Rechts- und Wertegemeinschaft hat sie endgültig abgedankt. Ungarn scheint niemanden mehr zu interessieren. Daher seien die wichtigsten Demokratiebrüche erneut aufgelistet.

"Gott segne den Ungar"

Die Präambel des ungarischen Grundgesetzes trägt den Titel "nationales Glaubensbekenntnis" und beginnt mit dem Satz aus der Nationalhymne, "Gott segne den Ungar". Die Präambel erinnert auch an die "Krone Stephans" und damit an das angeblich von Gott gestiftete mittelalterliche Staatskirchentum. König Stephan I. (974-1038) wurde 1083 heilig gesprochen. Mit der Berufung auf Gott sowie "Familie und Nation" als Basis "des Zusammenlebens" marginalisiert das Grundgesetz im Handstreich alle Nichtchristen ebenso wie Alleinerziehende, Geschiedene und Homosexuelle.

Geht es mit der Präambel zügig zurück ins Mittelalter, so zurren Teile der Verfassung brandneue Normen der Rechten fest. Zukünftige Regierungen können diese nämlich nur mit Zweidrittelmehrheit rückgängig machen. Die Rechtskoalition will ihre Ziele verewigen.

Das neue Mediengesetz installiert einen Medienrat als Kontrollorgan, das die Regierung mit ihren Leuten besetzte. In einem ersten Durchgang wurden 600 Mitarbeiter bei öffentlich-rechtlichen Medien entlassen, 400 weitere müssen bis Jahresende gehen. Den Entlassenen wurde unter Strafandrohung verboten, öffentlich zu machen, wie Kündigungskandidaten ausgewählt werden. Öffentliche wie private Medien wurden auf das Prinzip "ausgewogener Berichterstattung" verpflichtet. Im Kulturbetrieb rollten Köpfe. International berühmte Schriftsteller wie Péter Nadas, Péter Esterházy oder Imre Kertész gelten heute offiziell als "Volksfeinde".

Die kalte Einbürgerung

Die Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes lädt drei Millionen im Ausland lebenden Ungarn ein, ungarische Staatsbürger zu werden. Orbán machte den 4. Juni zum nationalen Gedenktag. Per Vertrag von Trianon (1920) verlor an diesem Tag Ungarn im Zuge der "nationalstaatlichen" Neuvermessung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn zwei Drittel seines Territoriums. Die kalte Einbürgerung und Eingemeindung fremder Staatsbürger (heute Slowaken, Rumänen, Serben und Kroaten) ist völkerrechtswidrig, aber Orbán bestreitet, ein "Großungarn" anzustreben. Mit Berufung auf "nationale Selbstachtung" spricht er verschleiernd vom "geschichtlichen Ungarn": "Die Krone symbolisiert nicht Gebiete, sondern den Zusammenhalt aller Ungarn - das Volk der Krone."

Das läuft auf eine territoriale Revision der Balkanländer und auf eine Aushöhlung des Völkerrechts hinaus. Vorerst drapiert Orbán diese Zielsetzung noch als Kulturkampf gegen das pluralistische Europa, indem er "nur" betont, dass "sowohl Ungarn als auch Europa entweder christlich sein werden oder nicht sein werden". Wenn die EU noch einmal mehr werden möchte als ein krisengeschüttelter finanz- und wirtschaftspolitischer Zweckverband mit Zentralbank und gemeinsamer Flüchtlingsabwehr, dann muss sie rechte Regierungen in der EU mit politischem und finanziellem Druck auf den Boden des Rechts zurückzwingen.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) beschäftigt sich mit Milch-, Hühner- und Bananenverordnungen, aber als Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist er bisher nicht aufgetreten. Und was tun EU-Parlament und EU-Kommission gegen den grassierenden Nationalismus? Das Schweigen von EU-Institutionen und europäischer Öffentlichkeit ist eine ungeheure politische Dummheit.

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