Kommentar Aleviten vs. "Tatort": Normalität lässt sich nicht verordnen
Die Aufregung der Aleviten über den Inzest-"Tatort" ist verständlich. Doch es ist auch ein Zeichen gesellschaftlicher Normalität, wenn der Mörder auch Roma oder Türke sein kann.
K ann man sich Roma vorstellen, die von Diebstahl leben und schnell mit dem Messer zur Hand sind? Natürlich. Gibt es Juden, die geizig und geldgierig sind? Warum nicht? Gibt es Schwule, die pädophil sind? Ja, all diese Fälle sind vorstellbar. Und alles, was prinzipiell vorstellbar ist, kann auch als Stoff für einen Roman, ein Theaterstück oder einen Film dienen. So weit geht die Freiheit der Kunst.
Bei den aufgeführten Beispielen handelt es sich allerdings durchwegs um negative Stereotype, die gerne zur Denunziation ganzer Minderheiten benutzt werden. Wenn solche Stereotype in einem Film, einem Roman oder einem Theaterstück auftauchen, sind daher Fragen angebracht. Wie hat der Autor das gemeint? Die meisten Autoren verzichten deshalb lieber auf derartige Stereotype - auch, um gar nicht erst in den Verdacht zu geraten, Vorurteile gegen Minderheiten schüren zu wollen.
Die Autorin der jüngsten "Tatort"-Folge hat sich nun bei der Alevitischen Gemeinde in Deutschland dafür entschuldigt, dass sie in ihrem Krimi einen Fall von Inzest im Milieu dieser religiösen Minderheit angesiedelt hatte. Ihre Themenwahl war zumindest ungeschickt. Denn dass unter Aleviten heimlich Inzest herrsche, wird dieser türkisch-muslimischen Religionsgruppe von der orthodoxen Mehrheit schon lange unterstellt. Die Aufregung vieler Aleviten ist daher verständlich.
In einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, in der immer mehr Minderheiten selbstbewusst mehr Rücksichtnahme fordern, werden solche Konflikte zunehmen. Es wäre ein Zeichen gesellschaftlicher Normalität, wenn der Mörder im Tatort auch Roma oder Türke sein kann. Aber Medien können Normalität nicht verordnen. Solange Vorurteile Wirkung zeigen, ist deshalb auf dieser Seite viel Fingerspitzengefühl gefragt, will man nicht unbewusst Vorurteile bedienen.
Minderheiten, die gegen negative Stereotypisierungen protestieren, laufen allerdings schnell Gefahr, als leicht erregbar und chronisch beleidigt abgestempelt zu werden. So ist der Protest der Aleviten zwar berechtigt. Ob sie gut beraten waren, gleich zu Demonstrationen aufzurufen, steht auf einem anderen Blatt. Mehr Gelassenheit wäre hier angebracht.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
ifo-Studie zu Kriminalitätsfaktoren
Migration allein macht niemanden kriminell
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Bundesregierung und Trump
Transatlantische Freundschaft ade