■ Kolumne: Keep on Rockin'
Die Gruppe Portishead sollte vorsichtig sein. Vor einer Veröffentlichung ihres neuen Albums in den USA sollte sie juristischen Rat einholen. Dort sind die Menschen streitbar, und wenn es je eine Platte gab, die den Straftatbestand „Vorspiegelung falscher Tatsachen“erfüllt, dann diese.
Denn weil die Gruppe mit dem Klang ihres Debütalbums unzufrieden war, mußte etwas Neues her. Statt dicke Schichten von Samples sollte es nun ein Symphonieorchester sein, um der Musik die gewünschte Romantik zu verpassen. Aber es war irgendwie noch nicht romantisch genug. Also legte man auf groteske Weise noch einen drauf: Man samplete die eigenen Orchesterarrangements, überspielte sie auf Vinylplatten und samplete dann wiederum diese Platten. So hoffte die Gruppe, noch jene bittersüße Wehmut im Zuhörer erzeugen zu können, die das Zurückschauen auf alte Zeiten meistens mit sich bringt.
Ist es nicht traurig zu sehen, wie total der Sieg der Postmoderne ist, ist es nicht genauso pervers wie lächerlich, daß man sich einer hochgezüchteten, superperfekten Technik bedient, um eine unperfekte zu simulieren und auf diese Weise den Adressaten seiner Kunst genauso belügt wie jene Baumeister, die in Hamburg Gewerbebauten hochziehen, bei denen eine dünne Schicht im Säurebad mit Patina versehener Steine die Betonmauern verdeckt? Vor allem aber: Was wurde eigentlich aus guter alter moderner Musik? Aus Musik, die nach vorne blickt?
In Großbritannien stehen seit jeher die glorreichen Sixties am höchsten im Kurs – eine unbeholfene Kopie des Mod-Rocks jener Jahre plus der dazugehörigen Großmaul-Pose reichten aus, um die Gruppe Oasis zu einem der erfolgreichsten Pop-Export-artikel des Jahrzehnts zu machen. Hierzulande werden in letzter Zeit vor allem Gruseligkeiten aus den gruseligen 70er Jahren – von Krautrock bis Christian Anders – mit großer Begeisterung wiederbelebt.
Weltweit gilt: Wer vorne dabei sein will, muß besonders kenntnisreich aus irgendeiner Vergangenheit zitieren. Wir haben die vielgelobten Postrocker, die klingen wie mittelmäßige Progressivrocker vor 25 Jahren, oder die sphärischen Klangteppiche, die wir eigentlich mit der Pensionierung von Rick Wakeman und Klaus Schulze für alle Zeiten eingerollt gehofft hatten und die sich jetzt doch allgemein wieder höchster Achtung erfreuen. Sogar der Überbau, die „Erweiterung des Bewußtseins“und das Love-Gefasel von anno dunnemals, sind wortgleich wiederauferstanden und plötzlich wieder sexy. Da ist auch die Wiederbelebung des nochmal ein weiteres Jahrzehnt früher geborenen Free Jazz nur ein schwacher Trost.
Wir leben in einer Zeit, in der man sich eigentlich an der Tatsache erfreuen könnte, daß die jüngere Vergangenheit erschöpfend dokumentiert ist. Woher kommt nur der Drang, diesen echten alten Dokumenten noch neue alte hinzuzufügen? Ist die Nachbarschaft dieser vieldimensionalen, buchstäblich greifbaren Vergangenheit so erdrückend, daß wir uns nicht trauen, mit unserer womöglich häßlichen, kleinen Gegenwart dagegenzuhalten? War früher alles besser? Oder ist nur die gute alte Flucht vor der Wirklichkeit mittlerweile ein allgemein akzeptiertes soziales Verhalten?
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