■ Kolumne: Der Drink zum Völkermord
Mein Freund Nago Hountohu und ich saßen in der neuen Bar unter der Sternbrücke. Lennart kam herein und ging direkt zur Theke. Er wirkte sehr verdrossen. „Bringst Du uns bitte was zu trinken mit?“, rief ich ihm zu. Lennart kam mit vier orangefarbenen Getränken herüber und hielt uns zwei davon hin. Nago nahm ein Glas, nippte kurz daran und bemerkte: „Ah, ein Harvey Wallbanger... – mit ein bisschen zu viel Wodka allerdings.“ Lennart brummte und nahm einen großen Schluck. „Ich musste der Barkeeperin zweimal erklären, wie man den mixt. Ein Wunder, dass sie hier überhaupt Galliano haben.“
Ich schaute derweil auf seinen Anzug: „Nicht schlecht, aber warum ist der vorne so nass?“ Lennart wirkte noch verdrossener. Er habe sich gerade mit Nika getroffen, erzählte er, um ihr seinen neuen Anzug zu zeigen: ein dunkelbauer Dreiteiler, sehr klassisch. Da habe sie ihn angeschrien, dass er ihr peinlich sei – und dass er jetzt mit solchen Herrenreiterklamotten herumlaufe, sei t-o-t-a-l reaktionär! Schließlich habe sie ihm ihren Caipirinha über die Brust gekippt.
„Aber gegen deinen Helmut-Lang-Anzug hatte sie nie etwas?“ bemerkte ich, und duckte mich schnell, weil der Musikjournalist Henning Stieg mit einer ausladenden Geste gegen die Wand hinter mir taumelte. Im Hintergrund lief „Shopping“ von den Pet Shop Boys. „Und dieses Lied mag Nika auch. Eine Konsumkritikerin kann sie nicht sein.“ Lennart leerte hastig seinen zweiten Harvey Wallbanger und ging wieder zur Theke.
Hinter uns an der Wand lehnte Henning Stieg und versuchte zum wiederholten Mal, sich ein Streichholz anzuzünden. Nago reichte ihm sein Feuerzeug und sagte dann zu mir: „Kleidung kann doch noch provozieren“ – „Dabei hört man in Talkshows ständig, heute könne gar nichts mehr schocken“, sagte ich. – „Ja, aber Lennarts Dreiteiler passt nicht in den Provokationskanon. Sein Anzug von Helmut Lang dagegen entspricht der modernen Lockerheit: Ich habe zwar einen Anzug an, aber ich trage ihn mit einem Augenzwinkern.“
Lennart kam wieder und brachte drei Harvey Wallbanger mit: „Bei seinen Pressekonferenzen während des Kriegs gegen Jugoslawien hat Scharping immer sehr moderne Designeranzüge getragen – als ob er sagen wollte: 'Ich muss zwar einen Völkermord anprangern, aber eigentlich wäre ich lieber mit Michael Naumann in der Disco.' Seitdem fühle ich mich so 'Neue Mitte', wenn ich Designersachen anziehe“ – Lennart stockte.
Von hinten umarmte ihn Nika, die unbemerkt herein gekommen war. „Entschuldige!“, seufzte sie laut. „Aber du siehst aus wie Schröder in deinem Brioni. Oder wie Christian Kracht“ – „Das ist doch kein Anzug von Brioni – das wäre total reaktionär!“ rief Lennart. Der Geruch von verbrannten Haaren drang zu uns herüber.
Henning Stieg hatte sich mit einer Stichflamme von Nagos Feuerzeug den Scheitel abgefackelt – er schien das nicht zu bemerken und murmelte: „Ihr spinnt doch, ein Anzug ist immer spießig! Womöglich tragt ihr drei auch weiße Unterhosen.“ - „Ja, das tun wir“, sagten Nago, Lennart und ich im Chor. Dann ging ich zur Theke und sagte: „Ein Harvey Wallbanger für Henning“.
Sebastian Hammelehle
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