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Kolumne the stars down to earth (5)Zwillinge und Doubles

Jeder Film bekommt einmal ein Geschwisterchen - ein böser Zwilling, der genau das Gegenteil macht.

Bild: rüdiger schestag

Diedrich Diederichsen, geb. 1957, gilt als einer der wichtigsten deutschen Poptheoretiker.

Zu jedem Film, das will ein alter Berlinale-Algorithmus, stellt sich, wenn man nur lange genug ins Kino geht, ein Geschwisterchen ein: ein böser Zwilling, der genau dasselbe ganz anders macht, ein Remake, ein Antagonist oder nur ein auffällig familienähnlicher Vertreter. Es obliegt uns Kolumnisten, von diesen Fällen zu berichten, denn die von den Leitartiklern am Ende des Festivals verfassten Resümees gehen davon aus, dass erst ab mindestens drei verwandten Filmen ein der Rede wertes Faktum vorliegt, das vielleicht sogar den Namen Trend verdient.

Manoel de Oliveiras "Singularidades" war immerhin mit zwei anderen Filmen verwandt. Mit Rudolf Thomes "Pink" teilte er das Interesse von Regisseuren zwischen 60 und 101 an dem Liebesleben junger Mädchen und die Tendenz, diese als Insekten zu präparieren. Gemeinsam ist beiden auch die Neigung zum Ton von Fabel und Märchen ("Es war einmal ein Mädchen, das hatte drei Liebhaber?"), die große Distanz zur zeitgenössischen Kultur (Was bitte ist eine "Punk-Dichterin"? Was bitte hat of all people Hannah Herzsprung mit Punk zu tun?), die Fähigkeit zu guten Mikro-Jokes (das beim Küssen angewinkelte Bein bei Oliveira, die SMS-Entstehungen bei Thome) und das Setzen der Schlusspointe, indem man die Hauptperson einfach von allen denkbaren Handlungsmöglichkeiten in einer gegebenen Situation die mit Abstand dämlichste wählen lässt (Zurückweisung der Geliebten, weil sie eine Kleptomanin ist, Eheglück mit dem trotteligsten Trottel, der je auf einer Leinwand zu sehen war). Mit Catherine Breillats "Barbe Bleu" wiederum teilt "Singularidades" das gekonnt Bilderbogenhafte, die Verliebtheit in Rahmen und Rahmenhandlungen und die Kürze; auch die Überzeugung, dass Film nur eine Episode in jahrhundertealten Bild-Erzählungstraditionen bildet.

"Milk" und "Fig Trees" enthalten je Behauptungen über Zusammenhänge zwischen Oper und schwulem Aktivismus. Während aber in Gus Van Sants ungewöhnlich konventionell erzähltem "Milk" es das Geheimnis des Harvey Milk bleibt, worin der Zusammenhang zwischen dem amerikanisch-aktivistischen Hervortreten aus der Menge und der Begeisterung für "Tosca" besteht, lässt John Greyson in seiner ultraopulenten hochassoziativen, vollgepackten Doku-Revue "Fig Tree" keinen kulturwissenschaftlichen Trampelpfad unbetreten, Arbeit, Politik und Leben eines kanadischen und eines südafrikanischen Aids-Aktivisten mit der Oper "Four Saints In Three Acts" von Gertrude Stein und Virgil Thomson so engzuführen, als hätten Isaac Julien, der mittlere Alexander Kluge und Jaqcues Derrida zusammengeschmissen. Rückwärts lesen klärt vieles.

Thomas Heises "Material" und Johan Grimonprez "Double Take" teilen die Neigung, die Materialität ihres Materials auszustellen. Bei Grimonprez sagen aber die verkratzten, von dicken Linien entstellten und dann wiederum überaus klaren Bilder aus Nachrichtensendungen, Fernsehserien, Werbung, Hitchcock-Filmen, -Trailern, -TV-Auftritten aus den späten 50ern und frühen 60ern die ganze Zeit nichts anderes als: Das haben Leute damals gesehen. Massen. Das Material ist von seiner Rezeption buchstäblich abgenutzt. Bei Thomas Heise bedeuten die langen, erschütternden Sequenzen aus seinem Archiv, die die untergehende, quasirevolutionär durchgeschüttelte und schließlich eingegliederte DDR auf allen Ebenen und in allen möglichen krumpeligen und defizitären Materialzuständen zeigen, das absolute Gegenteil von Grimonprez. Denn diese Bilder faszinieren uns ja gerade, weil man sie seinerzeit nicht gesehen oder nicht verstanden hat; weil sie nicht beherzigt, durchdacht und diskutiert wurden, als sie neu waren. Die Geschichte scherte es nicht, dass man ihre offenen Stellen, ihr Unentschiedenes manchmal genau zu fotografieren die Gelegenheit hat, fast so, als ob man sie packen oder ergreifen könnte. Auch das kann man sehen in "Material", wie Intervention oft fast zwangsläufig daneben greift, auch wenn das zu Greifende klar zu sehen ist.

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