Kolumne Zeitschleife: Sprachpfusch und Zeithypothek
Gibt es bei den "seriösen Medien" eigentlich Leute, deren Job es ist, ab und zu den ordnungsgemäßen Zustand von Worthülsen zu überprüfen? Zum Beispiel "Steuersünder".
J etzt machen wir mal ein Rätsel. Können Sie sich etwas unter diesem Satz vorstellen? "Nach der Fahrkartenserie war die Zeithypothek zu groß." Vielleicht geht es Ihnen mit dem Satz wie mir vorhin bei meiner Zahnärztin. Ich war sehr lange nicht da gewesen. Lange genug, um mir allmählich Sorgen zu machen über das, was sich möglicherweise seit, nun, Jahren, in den Tiefen meines Gebisses zusammenbraute - okkulter kariöser Verfall? Marodes Wurzelwerk? Entzündungsherde? Und lange genug, um den faszinierend hermetischen Fachjargon von Zahnärzten verdrängt zu haben, der ja kurioserweise beruhigend und bedrohlich zugleich wirkt. Man könnte einem Kamingespräch von Quantenmechanikern lauschen und würde mehr begreifen, als wenn Zahnärztin und Prophylaxeassistentin (ich vermute, das hieß früher Zahnarzthelferin) sich die Bälle zuspielen. Ich fand erst wieder Anschluss, als die Zahnärztin sich in Betrachtung meines Röntgenbildes zu der - aufwühlend ambivalenten - Aussage heranließ, sie "würde das jetzt nicht als Horrorszenario beschreiben". Womit ich mich unter den gegebenen Umständen erst mal zufrieden gab.
Also. "Nach der Fahrkartenserie war die Zeithypothek zu groß" besagt ganz einfach, dass ein Biathlet zu oft danebengeschossen hat und darob zu viele Strafrunden laufen musste, um am Ende noch eine gute Zeit einfahren zu können. Ja, der Satz entstammt einer Olympia-Livereportage aus Vancouver. Das Eskapismusangebot von Sportgroßveranstaltungen auszuschlagen fällt mir zunehmend schwer. Und man mag die sprachliche Armut beklagen, wenn immer nur alles "mitfiebert", wenn mal wieder ein Athlet "alles gibt" in so einem "Krimi" und die Stimmung einfach "Wahnsinn" ist. Das öde, fantasielose Gequatsche hat in seiner relativen Harmlosigkeit und ritualisierten Repetitivität etwas Anheimelndes, und man muss nicht immerzu auf der Hut sein wie draußen in der wahren Welt. Dort beten sämtliche Medien derzeit den Begriff "Pfusch" her, wenn es um die Vorgänge beim Bau der Kölner U-Bahn geht, als hätten da unbegabte Maurer geschludert und Schwups! war das Stadtarchiv in die Grube geplumpst. Vielleicht wäre es jetzt, da eine Untersuchungskommission "massives kriminelles Verhalten mehrerer Beteiligter" festgestellt hat, angezeigt, nach einem weniger idiotisch verharmlosenden Wort für diese Monumentalsauerei zu suchen.
Aber das scheint ja schon bei den "Steuersündern" so furchtbar schwer zu sein. Wenn einer 600 Euro Hartz IV bezieht, aber noch ein paar Mark achtzig auf dem Konto hat, die er der Behörde verschwiegen hat, muss er sich "Hartz-IV-Betrüger" schimpfen lassen. Wenn ein anderer fünf Millionen Euro am Fiskus vorbei in die Schweiz schiebt, ist er ein "Steuersünder". Gibt es bei den "seriösen Medien" eigentlich Leute, deren Job es ist, ab und zu den ordnungsgemäßen Zustand der Worthülsen zu überprüfen? Es ist infam, von "reuigen Steuersündern" zu sprechen, wenn es in Wahrheit um Betrüger geht, die die hosenvolle Angst vor Knast und die Aussicht auf Straffreiheit zur zähneknirschenden Selbstanzeige getrieben hat.
Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.
Aber es gibt ja auch "politische Kommentatoren", die geneigt sind, Westerwelles Hetzerei von "spätrömischer Dekadenz" als Anstoß zu einer "überfälligen Debatte über den Sozialstaat" aufzufassen. Dann könnte man auch das "Deutschland den Deutschen"-Geplärr irgendwelcher NPD-Säcke zum Anlass für eine Diskussion über Integration und Asylrecht nehmen. Bevors so weit kommt, muss ich zur Beruhigung noch ein paar Biathlon-Rennen glotzen.
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