Kolumne Unbeliebt: Tempo ohne Limit
Seiner Schnelligkeit verdankt der Grüne Boris Palmer Erfolge. Aber irgendwann ist er zu schnell geworden. So produziert er bisweilen Mist.
D er Grüne Boris Palmer liebt die Geschwindigkeit. Er hat Mathematik studiert, da rechnet er schneller als andere. Sein Vater nahm ihn als Jungen in unzählige Wahlkämpfe mit, deshalb kann er intuitiv durch Rededuelle preschen. Er kam auch schneller zum Regieren als andere Grüne, denn mit 34 Jahren war er schon Oberbürgermeister von Tübingen.
Als ich das erste Mal über ihn berichtet habe, sind wir durch den Schlossgarten von Stuttgart gerannt. Er wollte einen Express kriegen, ich keuchte ihm nach. Er war noch nicht OB und einen Bauzaun gab es auch noch nicht im Schlossgarten. Er trug einen Korb Weintrauben von seiner Mutter und hat sich im Laufen kurz zu mir umgedreht und gelacht, es war ein guter Moment, Boris Palmer im Jahr 2006.
Er hatte damals ein Ziel: es besser zu machen als sein Vater Helmut Palmer, der Remstal-Rebell, der ewige Kandidat, der viele Menschen begeisterte, aber nie in ein Amt gewählt wurde. Das hat er geschafft. Aber seither hat er das Tempo nicht gedrosselt, im Gegenteil.
GEORG LÖWISCH leitet die sonntaz-Redaktion.
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Wer spurtet, schüttet Glücksstoffe aus, egal ob es auf den Parteitag geht oder mit dem Rad auf einen Berg. Palmer machte beides. Er glänzte in Talkshows, wo sich Gäste dieses feine Höhegefühl mitnehmen; es belohnt sie dafür, dass sie sich zerreißen zwischen Orten und Aufgaben.
Wir treffen uns am S-Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Starbucks. "35 Minuten", sagt Palmer. Vor dem Tresen biegt sich eine Schlange. Wir kürzen den Kaffee weg. Gleich muss er zum Parteirat in die Grünen-Zentrale.
Vor sechs Wochen verteilte er dort ein Thesenpapier. Über das er nicht lange genug nachgedacht hat. Es ging darum, was der Erfolg für die Partei bedeutet. Über Punkt vier steht: "Das grüne Wachstum erfordert eine programmatische Veränderung." Selbst bei grünen Themen stehe vieles in Frage, wenn das Wachstum gesichert werden sollte. "Das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ist vorerst keine Forderung, mit der sich 25 % der Deutschen gewinnen lassen."
Der Satz an sich ist schon ein ziemlicher Mist. Die 25 Prozent stimmen nicht, deutlich mehr Deutsche haben in Umfragen nichts gegen ein vollwertiges Adoptionsrecht von Schwulen und Lesben. Es ist auch Unfug zu behaupten, dass irgendwer in Deutschland uneingeschränkt adoptieren dürfe.
Das Papier gelangte in die Medien. Der Oberbürgermeister, der 2007 vom Tübinger CDU-Landrat verlangt hatte, dass die Homoehe auf dem Rathaus geschlossen werden darf und nicht im Landratsamt stattfinden muss, stand nun als schwulen- und lesbenfeindlich da. So unbeliebt kannte er sich nicht.
Palmer schaut über den Starbucks-Tisch. Er habe die Risiken so eines Papiers unterschätzt. Er sagt: "Ich habe nicht gewusst, dass es so wichtig ist, mich in den Dreck zu ziehen."
Der Satz in dem Papier sei ein Beispiel für eine Position gewesen, die die Grünen halten müssten. Mit gutem Willen kann man vielleicht aus dem Titel des Papiers herleiten, dass es nicht nur Forderungen enthält: "Grünes Wachstum - um jeden Preis?"
Aber er hat eine Grenze verletzt. Manche Fragen gehören nicht in strategische Kalkulationen, das Eintreten für die Gleichstellung einer Minderheit zählt dazu. Er hat sie zum Objekt von Rechenschiebereien gemacht.
Er schaut mich an, als verstehe er das Argument. Aber er gibt nicht nach. Ein ICE kann keine Spitzkehre. Er ist zu schnell. Boris Palmer im Jahr 2011.
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