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Kolumne SchlaglochKrachende Kulturkritik

Wer die neuen Errungenschaften der Automobilindustrie sucht, muss nach Malta fahren.

Dies ist eine Betrachtung über Geräusche. Denker haben selten über Geräusche nachgedacht, aber das ist falsch. Denn möglicherweise betreffen sie das Grundverhältnis unseres In-der-Welt-Seins. Krach ist nicht gleich Krach. Kein Mensch beschwert sich zum Beispiel über Meeresrauschen. Ja, beim Lärm der Wellen wird es ganz still in uns. Selbst die größten Banausen haben plötzlich einen Gesichtsausdruck, als wüssten sie, was innere Einkehr ist. Und sogar neben einem Wasserfall, der mühelos ganze Discotheken übertönt, schlafen wir gut. Manchmal. Aber wehe, da fährt irgendwo ein Auto! Das ist doch unlogisch.

Der Mensch gewöhnt sich an alles, ist einer dümmsten Sprüche überhaupt. Denn an die allermeisten Dinge gewöhnt er sich nie. Wahrscheinlich am wenigsten an seine eigenen Hervorbringungen. Das ist keine unbedingt gute Prognose. Über Achtzigjährige fallen plötzlich durch den täglichen Ausruf "Mein Gott, diese Autos!" auf, sobald sie die Straße vor ihrem Haus betreten. Sie meinen: Hier kann ich unmöglich bleiben. Nicht unter Autos!

Anfangs schien ein freundliches Nicken die angemessenste Reaktion, denn der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an täglich erneuerte Aussagen wie "Mein Gott, diese Autos!" seiner Nächsten. Und das von Personen, die ihr ganzes Leben in der Allgegenwart von Autos verbracht haben. Ja, deren Lebensspanne genau mit dem Zeitalter der Automobilisierung des Menschen zusammenfällt.

Aber irgendwann fühlt man doch ein Bedürfnis zu antworten: "Was, die paar Autos stören dich? Wo ich wohne, gibt es viel mehr." - "Ja", antwortet da die Autohasserin mit sanfter Nachsicht, "da, wo du wohnst, gibt es von allem zu viel. Zu viele Autos. Zu viele Häuser …" Steckt in jedem alten Menschen ein großer Zivilisationskritiker? Und was, wenn er recht hat?

Dass es Menschen, die an Orten wohnen, wo es von allem zu viel gibt, vorzugsweise an Orte zieht, wo es von allem zu wenig gibt, ist verständlich. Auf Inseln zum Beispiel. Auf Inseln gibt es vor allem zu wenig Festland und also weniger Festlandsnachteile.

Malta. Das ist so klein, dass es auf den meisten Landkarten gar nicht erst vorkommt. Wer gerade mal knapp dreißig Kilometer Durchmesser hat, nicht einmal die halbe Stadtfläche von Hamburg, mitten ins Mittelmeer geworfen, der darf nicht übermäßig geltungssüchtig sein. Der muss damit leben, dass kein Mensch im Ausland den Ministerpräsidenten kennt und dass keiner merkt, wenn der einen Staatsbesuch macht. Wahrscheinlich wird es keinem außer den Maltesern selbst auffallen, wenn die Insel am 1. Januar den Euro bekommt. Als Malta der EU beitrat, sind bei uns zwei maltesische Kochbücher erschienen. Unhörbar, geräuschlos. So sind die Kleinen des Lebens.

Auf Inseln hat man auch viel Zeit, über Irrtümer nachzudenken, denn man kommt da ja nicht so einfach wieder weg. Mein Gott, diese Autos! Wer sich einen Überblick über die neuesten Errungenschaften der globalen Automobilindustrie verschaffen will, muss unbedingt herkommen. Überhaupt jeder, der wissen will, was Verkehr ist. Man meint es zu wissen und versteht bald: Das war nur ein Vorwissen. 24 Stunden Rushhour. Man sitzt auf einem kleinen Felsen im unendlichen, nachtstillen Wasser und doch mitten auf einer Kreuzung.

Bleibt nur eine Frage: Wo wollen die hin? Links das Meer, rechts das Meer, vorn und hinten. Straßenschilder tragen vorzugsweise Entfernungsangaben wie " ... 1 km". 93 km nach Sizilien, und in der anderen Richtung wohnt Muammar al-Gaddafi, 360 km weit weg. 360 km? Dafür brauchte ein durchschnittliches maltesisches Auto, nach der Akustik seines Motors zu urteilen, eine gute Stunde … - Ja, ist diese Insel gar ein Gleichnis unserer Zivilisation? Das Unterwegssein als reiner Selbstzweck. Die rasen im Kreis und kommen nirgendwo an mit immer größerer Geschwindigkeit.

So reden natürlich alle Kulturkritiker alten Stils, nicht nur die über Achtzigjährigen. Aber aus jedem wird ein Kulturkritiker alten Stils, wenn er nicht schlafen kann. Und vielleicht ist das alles nur eine Frage der Perspektive. Vielleicht kann, wer ganz allein mitten im Meer wohnt, erst recht nicht schlafen, wenn er immerzu daran erinnert wird, dass er ganz allein mitten im Meer wohnt. Er muss die Ruhe übertönen! Nur wo Krach ist, bist du ganz bei dir. Und zwar selbst erzeugter Krach. Daher die Verpflichtung eines jeden Insulaners, alle Zivilisationsgeräusche selbst herzustellen. Und Zivilisationsmengen, das Viel-zu-Viele. Meere, ha, die machen wir doch selbst!

Und die Malteser schufen Häusermeere direkt am Strand. Wahrscheinlich gab es schon früh auf Malta und Gozo mehr Kirchen als Bäume, zumal die einen beim Menschen, die anderen beim Hund eine besondere Funktion haben. Sie markieren einen Herrschaftsbereich.

Kann sein, es gibt noch eine viel einfachere Erklärung für den automobilen Profilierungszwang der Malteser. Ihre Busse! Diese schönen alten Vierzigerjahre-Modelle von Leyland und Bedford, auf denen vorn statt eines Fahrziels manchmal "Sunrise for all" steht, Sonnenaufgang für alle, oder ein anderes gültiges Menschheitsziel. Die Türen sind nie geschlossen, und meist haben sie erst gar keine.

Ob die Malteser Busse die EU überstehen werden? Sie klingen natürlich, wie Busse der Vierzigerjahre eben klingen. Ein bisschen dominant, aber irgendwie gut. Motor ist nicht gleich Motor, und das Hören ist eben eine sentimentale Angelegenheit. Technikgeräusch sinkt ab zum Naturgeräusch.

Wahrscheinlich ist die maltesische automobile Avantgarde nur eine Reaktion auf den spezifischen Modernitätsgrad ihrer Busse. Und darum sitzen heute ein paar Greise im Ort Sliema jeden Tag vor ihrem Altersheim, den Blick starr in das motorisierte Küstenstraßenverhängnis vor ihnen gerichtet. Ist es nicht wie das weiße Rauschen im Fernseher, wie eine ewige Bildstörung? Und gleich hinter dieser Bildstörung liegt das Mittelmeer.

Ja, man müsste Verkehrsminister von Malta werden, ach was, Verkehrsdiktator. Denn auf Inseln macht das Herrschen noch Spaß, die sind so übersichtlich. Die Grenzen der Übersichtlichkeit sind die Grenzen der Herrschaft. Im Namen der Alten von Sliema würden zuerst alle Autos im Mittelmeer versenkt oder ins Ausland verkauft. Nur die alten Leylands dürften natürlich weiterfahren …

Malta ist genau der richtige Ort für eine solche Diktatur, schließlich war Valletta die erste moderne Stadt. Am Reißbrett entworfen von einem Schüler Michelangelos. Denn Inseln sind die wahre Avantgarde. Und mal sehen, vielleicht ließe sich am Ende sogar unser Hören versöhnen. Es ist ja gar nicht technikfeindlich per se. Zikaden zum Beispiel vibrieren in unseren Ohren zwar wie die Verheißung eines ewigen Juli, erst recht nach diesem ausgefallenen Sommer. Aber genau gehört klingen sie wie ein ganze kaputte Trafostation. Das Insekt, der Botschafter des Industrie- und Informationszeitalters seit Urzeiten!

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2 Kommentare

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  • KH
    Kerstin Himmelmann

    Die TAZ hat mit dieser erfrschenden Kolumne mindestens eine einigermaßen vernunftbegabte Leserin dazu gewonnen. Vielen Dank für diese so treffende Beschreibung eines hier auf den maltesischen Inseln allgegenwärtigen Problems, das von den lärmresistenten Insulanern selbst scheinbar völlig ignoriert wird. Krach - so wähnt es einen - ist wie Musik in des Maltesers Ohr. Als gemeine Mitteleuropäerin ist es mir bis heute nicht wirklich gelungen, über getunte Autos, röhrende Busse und wummernde Sub-Woofer in tiefer gelegten Schlitten (die tagein - tagaus quasi zum Zeitvertreib über das Eiland cruisen) zu gewöhnen. Vertrieben hat mich die Geräuschkulisse bislang noch nicht: Malta liebt man oder man hasst es. Meiner persönlichen Liebe zu diesem hübschen kleinen Mittelmeerstaat südlich von Sizilien haben die kleinen alltäglichen Schönheitsfehler bisland noch keinen Abbruch getan.

     

    Kerstin Himmelmann, Insel Gozo

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    klaus boetig

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    Einen inhaltsleereren Text ueber Malta habe ich noch nie gelesen.

    klaus boetig

    autor u.a. der malt-/reisefuehrer von marco polo, merian, mitarbeiter am merian-heft-malta, autor eines artikels ueber die massenmedien auf malta im djv-organ "journlist" etc.

    mit baby-geschwaetz wie in diesem beitrag kann die taz sicherlich keine vernunftbegabten leser gewinnen...