Kolumne Parallelgesellschaften: Hells Kitchen am Hermannplatz
Dem Zuschauer leuchtet spontan ein, warum die wirklich wilden U-Bahnhöfe eigentlich Bühnen des Lebens sind.
Abends, vor allem am Wochenende, meint man, inmitten einer zeitgenössischen Variante jener metropolen Anordnung zu sein, die Leonard Bernstein in den frühen Fünfzigern gesehen, ja, empfunden haben muss als Vorlage für seine "West Side Story". Dieses Musical ist ja nur die entertainmenthaft entschlackte Geschichte eines Bandenkampfes in einem New York, in dem Mord und Totschlag gängig waren und die aus aller Welt eingewanderten Neuamerikaner noch echte Bewohner Manhattans sein konnten, Mietskasernen waren bezahlbar. Heutzutage böte wohl der Hermannplatz eine perfekte Kulisse für ein Musical, das "Neukölln" betitelt würde, ein Viertel, das allgemein (Rütlischule, Intensivtäter, Bandenscharmützel, Kopftücher und Männer, die zu viel Testosteron haben und zu wenig Sex) als des Teufels Küche empfunden wird.
Im Alltag ist dies ein Ort ruppigster Nervosität, typisch für die Idee der Stadt, in der tausende von Menschen geballt miteinander auskommen müssen, dies als Zumutung empfinden und doch nicht Amok laufen dürfen. All dieser Stress nach einer persönlichen Vendetta gegen alles und jeden, das Blut, das nicht mehr aus den Klamotten geht, diese Polizei, dieser Behördenkram, dieses lästige Rechtfertigen vor Gericht, hinterher auch noch Knast, nee, da hält man lieber still und hält aus. Großstadtleben ist nur selten gemütlich, und am U-Bahnhof Hermannplatz, Schnittpunkt zwischen den schickeren Teilen Kreuzbergs und dem, der die Hölle selbst sein soll und ja auch oft ist, auf dem Bahnsteig der U7, findet Abend für Abend eine moderne Fassung der "West Side Story" statt. Beteiligt sind fast nie Jungs und Mädchen - Erwachsene schauen nur zu - mit blonden Haaren, stets sind es Teenager mit dunklem Teint und dunklen Haaren. Migranten eben, so wie die Protagonisten in Bernsteins Singspiel es auch waren.
Dieser Bahnsteig ist eine perfekte Bühne, bestimmt 20 Meter breit, 150 Meter lang. Auf ihr zwei Kioske, zwei Treppen, von deren einer ständig Menschen auf diese Bühne neu hinzuströmen, sie kommen aus der Oberwelt und aus den Zügen der anderen Linie, die vom schicken Bezirk Mitte diesen Platz kreuzt. Das Stück, das nun nach allgemeinem Feierabend der Erwachsenen gegeben wird, könnte sonst wie heißen, aber immer geht es beweglich zu. Jungs laufen hin und her, rufen sich laut Dinge zu, flüstern in ihre Handys; die Mädchen, um die es ja auch geht, kichern hörbar, und zugleich animieren sie die Jungs, sie locken sie, und diese verstärken ihr Tun, laufen, gehen und rennen, als ginge es um Letztes. Dass sie, falls sie joblos sind, ihr Stück nicht tagsüber geben, liegt auf der Hand. Alle anderen, die diesen Bahnsteig nutzen müssen, stehen ja im Weg - aber da sie unter sich sein wollen, möchten sie vom gewöhnlichen Trubel nicht genervt sein.
Man kann dieses Schauspiel jeden Abend dort verfolgen, jedes Wochenende extrastark, denn die Plattform der U7 am Hermannplatz ist ein grandioses Theater - der Bühnenhimmel nämlich ist extrem hoch, die Akustik phänomenal, man kann wispern, aber auch so sprechen, dass es überall zu vernehmen ist.
Im Grunde ist dieses Theater eine Experimentierbühne.
Und wer ist das Publikum, wer soll zuschauen? Die sitzenden Passagiere in der U-Bahn, die zufälligen Gäste dieser Nacht sie sollen sich ja gruseln, ein wenig zumindest. Aber natürlich auch das Personal der U-Bahn selbst, die Zugführer, die Aufpasser, die ihre Bilder über die Videokameras zugespielt bekommen. Denn darauf verlässt sich ja das Ensemble dieses Stücks, ohne darüber nachdenken zu müssen: dass man es im Zaum hält, wenn die Chose mal zu aggressiv auszuufern droht. Mit Blick auf New York prophezeit: In 40 Jahren wird diese Bühne Legende sein, so wie Hells Kitchen in Manhattan. Und das ganze Viertel ein Erfolgsquartier für gelungene Integration.
Fragen zur U7? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE
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