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Kolumne ParallelgesellschaftKein grünes Pseudoparadies

Jan Feddersen
Kommentar von Jan Feddersen

Im Alter ins Grüne? Nicht so die älteren Damen und Herren, die dort bleiben wollen, wo sie immer gelebt haben. In der Großstadt - wie die 87jährige Frau Seifert.

F rau Seifert wohnt wirklich billig. 87 Quadratmeter zum Hinterhof an der Neuköllner Sonnenallee, die Fenster noch nicht modernisiert, winters liegt auf ihrer Fensterbank ein Handtuch, um den tauenden Frost nicht in ihre Küche tropfen zu lassen. Sie hat ein festes Leben, sagt sie, "montags gehe ich zur Hand- oder Fußpflege, am Dienstag besuche ich meine Freundin im Wedding", am Mittwoch trifft sie ihre Skatrunde, am Donnerstag ihre Enkelin, und dann kommt das Wochenende, und da ist Frau Seifert auch nicht unterbeschäftigt, denn sie fährt gern mal ins KaDeWe und geht gucken.

Bild: taz

Jan Feddersen (50) ist Autor und Redakteur in den Ressorts taz.mag und tazzwei

Und zwar nicht am Vormittag, wenn im Kaufhaus noch wenig Trubel herrscht, sondern am Nachmittag. "Dann ist was los", sagt sie, und sie freut sich schon auf den nächsten Ausflug. Es lässt sich hier so schwer nachbilden, wie diese alte Frau redet, denn das tut sie berlinerisch durch und durch, herzhaft, "aber ich bin eine Dame, die weiß, wann sie ihre Handschuhe anzubehalten hat". Neulich hat sie mich mitgenommen, obwohl ihr das erst nicht recht war. "Dann muss ich ja auf Sie Rücksicht nehmen." Nein, nicht nötig, sie möge einfach dort tun, was sie immer tut. Und wie sie das tat! Schlenderte zwischen den Regalen hin und her, befühlte die Stoffe in der Damenabteilung, trank Kaffee und ereiferte sich über das Rauchverbot in der Konditorabteilung. "Ich habe immer meine Zigaretten geraucht, und nun riecht es nicht mehr nach Caféhaus und wie früher."

Frau Seifert hat im Übrigen neulich 87. Geburtstag gefeiert, und bedauerlicherweise war das ein schwieriger Tag, weil schon wieder ein alter Schulfreund gestorben war: "Bald bin ich allein übrig." Aber sie hält sich wacker, gibt Schularbeitennachhilfe in ihrem Quartier, findet die ganzen "muselmanischen Gören" ganz bezaubernd, "vor allem die Mädchen", und freut sich über "jeden Tag, den ich lebe". Ist ihr aber nicht das ganze Leben in der hektischen Großstadt zu viel? All die drängelnden Menschen, die lärmenden Umstände und die Verrohung der Sitten? Frau Seifert erwidert mit einer Geschichte: "Meine Freundin Elsa wollte hier in Neukölln bleiben. Wo hätte sie auch hinsollen? Als Postbotin kannte sie hier alle. Aber dann haben ihre Kinder gesagt, Mutti, komm, ein Pflegeheim im Grünen, das wird dir gut tun."

Frau Seifert, die als Schlachtereifachverkäuferin keine besonders gute Rente erhält, nur ihr Freund, der 69 Jahre alte Fahrradmonteurmeister, den sie vor vier Jahren kennenlernte bei einer Reise an die Ostsee, der hat mehr Geld, "und wir können vieles teilen". Dann sagt sie: "Die Gute jedenfalls war sechs Wochen im Grünen, wurde dauernd krank, musste sich anhören, sich zu schonen und bloß Maß zu halten - also, ich sage Ihnen, da wäre sie doch glatt gestorben" bei all dieser hysterischen Fürsorge. Jetzt wohnt sie wieder in der Stadt, in einer Zweizimmerwohnung mit Fahrstuhl, "den hatte sie ja vorher nicht", und wirke fiedel wie immer sonst, ehe sie ins Grüne, dieses Pseudoparadies, das doch nichts bereit hält an Abwechslung, weggelobt wurde.

Frau Seifert muss jetzt gleich nach Hause. Murat und Yvonne und Mirko und Cigdem stehen dann vor der Tür, "heute üben wir mal Kopfrechnen mit Reiskörnern, da freu ich mich." Geht und guckt und genießt offenbar, Teil einer Stadt zu sein, die ihr immer Überraschenderes bietet als jedes gediegene RuheständlerInnendasein sonstwo jenseits des Lebens. Seither muss ich alte Leute in der U-Bahn anders sehen. Sie quälen sich nicht durch den Feierabendverkehr, sie freuen sich. Es muss ein eventuell beschwerliches Gefühl sein, nicht mehr in kräftigstem Saft zu stehen, aber abschieben lassen wollen sie sich nicht. "Ruhe ist, wenn ich tot bin", sagte Frau Seifert einmal, und das sollte wohl bedeuten, dass sie sich nicht zur Seite schieben lassen will aus dem, was Leben heißt.

Mit ihrer Tochter hat sie neulich ein Telefonat beendet, indem sie den Hörer auf die Gabel warf: "Die wollte schon wieder mir Vorwürfe machen, weil ich nicht nach ihrer Nase tanzen wollte. Ich sollte vier Wochen auf ihr Reihenhaus aufpassen. Aber ich hätte nicht mal Freunde einladen können. Nee, ohne mich!"

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kolumne@taz.de

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Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, Meinungs- und Inlandsredaktion, Wochenendmagazin taz mag, schließlich Kurator des taz lab und der taz Talks.. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!

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