Kolumne Overseas: Die eingebildete Kranke
Restless-Legs-Syndrom oder erektile Dysfunktion? Im Lexikon der Volksplagen findet man alles.
D ie Krankenversicherung in Europa wurde nur erfunden, um uns krank zu machen. So sieht das der Amerikaner. Unsere nicht ganz so perfekten Zähne sind ihm ein böses Mahnmal. "Gelbe, krumme Zähne. Das macht der Staat aus dir, wenn du dich von ihm versorgen lässt!" "Gestorben, während sie im kanadischen Sozialismus auf eine Ersatzniere wartete." Oder: "Britischer Staat verbietet Älteren teure Medikamente!" So krakeelen die Republikaner gegen Obamas zaghaftes Gesundheitsreförmchen.
Adrienne Woltersdorf ist USA-Korrespondentin der taz.
Wenn man die Konservativen hört, könnte man meinen, es sei ein Quantensprung der Menschheit, dass in den US and A über Leben oder Tod der Versicherungskaufmann entscheidet. Der weist erst mal auf die Ausschlussklausel im Kleingedruckten hin. "Was? Sie hatten als Kleinkind Husten? Nein, dann können wir bei Lungenkrebs nichts dazuzahlen, sorry."
Doch an der These, Versicherungen machen dumm, ist etwas dran. Wir in der Alten Welt mit Rundumversicherungspaketen machen uns einfach keinen Kopf. Zumindest nicht so einen, wie ich ihn mir mache, seitdem ich amerikanisches TV schaue. Im ersten Jahr kam ich mir vor wie ein Medizinstudent. Ich hatte auf einmal eingebildete Krankheiten, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Heute, nach vier Jahren, bin ich ein wandelndes Lexikon der Volksplagen, zu denen führende Pharmakonzerne gerade tolle neue Produkte entwickelt haben.
Die Werbefilmchen im Nachrichtenblock sind einfach zu gut. Ja, auweia, auch ich zappele manchmal nachts mit den Beinen, weiß nicht, wo und wie ich sie hinlegen soll. Klarer Fall, sagt der Werbespot-Arzt: Restless-Legs-Syndrom! Nervöses-Bein-Syndrom. Medikamente dagegen gibt's im Doppelpack in der Drogerie ab 49,90 Dollar, gefolgt von einer auf doppelte Geschwindigkeit geschalteten Litanei der Nebenwirkungen.
Bis zum Ende der Nachrichten - welcher Nachrichten eigentlich, die dauern schließlich 24 Stunden - habe ich zwar wenig über die Welt, aber viel darüber gelernt, auf welche Arten uns unser Körper im Stich lässt. Da wäre das offenbar massenhafte Auftreten des Kollumkarzinoms (eine Art Gebärmutterhalskrebs), oder die heimtückische rheumatoide Arthritis, die vornehmlich Menschen in Vorgartenidyllen heimsucht. Da wäre Inkontinenz oder ekzematöse Dermatitis, und natürlich, bis ich fast schon weggedämmert bin, die Volkskrankheit Nr. 1: Schlaflosigkeit.
Wer sich schon auf die Folgen seines Übergewichtes vorbereiten will, wird informiert über Diabetes-Testgeräte oder vertröstet, dass man als Schizophrener nie allein ist. Unterbrochen von Interviews mit Kongressabgeordneten zur Bankenkrise gibt es Mittelchen gegen erektile Dysfunktion, die "einen bestimmten Teil des männlichen Körpers größer machen": Rufen Sie an, eine Wochen-Probepackung ganz umsonst.
Vor dem Halbstundenblock des Hurrikanreports werde ich - fragiles, anfälliges Individuum - zurückgeworfen auf die Gefahren des Daseins. Aber ein säuselnder Rechtsanwalt verspricht, mich und meine Mesothelioma-zerfressene Lunge in einer Asbestgeschädigten-Sammelklage rauszuhauen. Ich wusste nicht, dass es so gefährlich ist, zu leben - damals, zu Hause in Deutschland. Nach vier Jahren USA lese ich sogar auf der Tamponpackung die Nebenwirkungen. Da steht: "Achtung: Tampons werden mit Toxischem Schocksyndrom (TSS) in Verbindung gebracht, einer ernsten Krankheit mit möglicher Todesfolge." Gott sei Dank warnt uns Frauen mal einer!
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