Kolumne Ostwärts immer: Scheitern mit Format
Die irischen Turnierquartalstrinker haben der EM einen wunderbar emotionalen Moment geschenkt. Auch Polens Fans wollen würdevoll trauern, doch nicht allen gelingt das.
Z oppot ist fest in irischer Hand. Neben mir wohnt ein Ire, der sich den Bart in den Landesfarben koloriert hat. Wenn er mittags aufsteht und wir uns zufällig treffen, sagt er: „Hi Chief!“ Die Iren gehen grundsätzlich erst ins Bett, wenn sie alle Biervorräte in Zoppot leergetrunken haben, so gegen sieben Uhr morgens.
Manchmal treten sie nach durchzechter Nacht noch in Verhandlungen mit lokalen Prostituierten. Sie legen keinen besonderen Wert auf Diskretion. Mitbewohner des Apartmenthauses dürfen durch dünne Wände hindurch teilhaben am Gefeilsche.
Lange werden die Iren nicht mehr im Ostseebad Zoppot sein. Ihr Team hat die Vorrunde nicht überstanden. Aber die Turnierquartalstrinker von der Grünen Insel waren es, die der EM einen wunderbar emotionalen Moment geschenkt haben.
ist Sport-Redakteur der taz und während der EM in Polen unterwegs sowie bei den Spielen der deutschen Mannschaft dabei.
Spanische Fans fraternisierten mit den Iren, Iren verbrüderten sich mit den Spaniern. Ein Stadion sang gemeinsam. Da war kein Fünkchen Hass oder Rivalität mehr in der Danziger Arena. Berührend war die Sangeskunst echter Fußballfreunde.
Die Iren trieben es trotz der deftigen Niederlage auf die Spitze und sangen lauthals: „Our love was on the wing we had dreams and songs to sing.“ „Fields of Athenry“ ist ein Lied über die irische Hungersnot zwischen 1846 und 1849. Die Uefa sollte überlegen, ob sie nicht zu jedem EM-Spiel 20.000 Iren schickt. Auch wenn das allen ungeschriebenen Gesetzen des Fantums widerspricht, bewahren sie im Angesicht der Niederlage Haltung. Das hat Format.
Das kann man von jenem polnischen Fan nicht behaupten, der in einer Zoppoter Tapasbar den Arm zum Hitlergruß reckte. Seine Begleiterinnen schien das zu amüsieren. Sie registrierten zwar meinen verstörten Blick, zechten aber munter weiter. Ich wusste nicht, wie ich das deuten sollte. Die Entgleisung leistete sich der Pole in einer Nacht des nationalen Überschwangs. Polnische Fans tanzten auf Autos, schwenkten ihre Fahnen und skandierten „Polska, Polska“ mit einer Inbrunst, als hätten sie Jahre auf diesen Moment warten müssen.
Bis jetzt waren die Fanzonen bei Polenspielen zum Bersten voll. Der Wille zur kollektiven Inszenierung eines Sommermärchens ist groß. Es stört die Polen nicht groß, dass sie draußen sind. Fast hätte man Samstagnacht denken können, sie wären ins Finale eingezogen, aber nach dem 0:1 ist die EM für sie vorbei. Psychologen sind unsicher, welche Art der Erinnerungsabwehr wirkt: Verneinung, Verleugnung oder Derealisation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren