Kolumne Oettle über alles: Für welches Land würden Sie sterben?
Wie alle Medienschaffenden haut unser Kolumnist gerne Pazifisten in die Pfanne. Aber er meint: Die andere Seite argumentiert nicht weniger widersprüchlich, das hat ein Dilemma halt so an sich. Am Ende des Textes positioniert er sich sogar selbst!
Von Cornelius W. M. Oettle
Vermutlich ist in den letzten Wochen in Ihrer Nähe auch mal die Granatenfrage eingeschlagen, ob Sie im Ernstfall für Ihr Vaterland zur Waffe greifen würden. Einen offenen Totalkrieg zwischen Russland und Nato auf breiter Front, bei dem auch schusselige Zivilisten wie unsereiner an der Haubitze performen, prophezeien zwar selbst die Alarmisten unter den Militärexperten nicht. (Achtung: Das „Aber“ zum vorausgegangenen „zwar“ kommt erst vier Absätze später!) Nicht einmal Carlo Masala, der in seinem Buch „Wenn Russland gewinnt“ im Kriegskonjunktiv schildert, wie Russland im Jahr 2028 die estnische Stadt Narwa an der Grenze zwischen Estland und Russland angreifen könnte, um zu prüfen, ob die Nato wirklich bereit wäre, jeden Zentimeter ihres Gebiets zu verteidigen.
Überdies wird bei Masala unter anderem die unbewohnte Hans-Insel zwischen Dänemark und Kanada erobert, wo in der Vergangenheit der „Whiskey-Krieg“ herrschte: Auf der Felseninsel hissten dänische und kanadische Soldaten bis ins Jahr 2022 im Wechsel die jeweilige Landesflagge und hinterließen dabei stets eine Flasche heimischer Spirituosen. In diesen Krieg wäre ich ohne mit der Leber zu zucken gezogen. In Masalas Szenario nehmen die Russen mit einem nuklear bestückten U-Boot Kurs auf ebenjene Schnapsinsel und hinterlassen dort eine Pulle Wodka – als Machtdemonstration, die Unruhe stiften und zeigen soll, womit sie durchkommen können.
Am Ende des Masala-Büchleins winkt die Nato jedenfalls ab und verteidigt Estland nicht. Einen Weltkrieg ist Narwa den führenden Nationen nicht wert. Denn die Nato ist auf dem Papier zwar ein Bündnis, aber auf dem Papier liefert mein Pizzakurier auch innerhalb der nächsten 45 Minuten. Erst im Ernstfall zeigt sich, auf wen man sich ver-lassen kann. Drum sage ich schon lange: Föderale Bundesrepublik schön und gut, aber Baden-Württemberg braucht die Bombe. Auf Bayern und Berlin bau ich nicht.
Russlands Sieg, wie ihn der Buchtitel vorwegnimmt, besteht also ausdrücklich nicht darin, dass Polen oder gar Deutschland in russische Hände fallen – einen solchen Angriff würde Moskau wohl nicht überstehen. Der Bürokaufmann aus Cannstatt muss also höchstwahrscheinlich nicht in den Schützengraben. Notabene: Nicht, weil Putin so ein friedliebender Kerl wäre, sondern weil er weiß, dass der Westen ebenfalls monströse Waffenarsenale im Köcher hat, die die Nato fürs Baltikum womöglich nicht zückt, wohl aber für Warschau. Die Aufrüstungslogik ist eben doch: eine Logik.
Aber (da ist das angekündigte „Aber“ ja endlich) bombastische Klickzahlen und hitzige Gefechte in der Kommentarspalte befeuert man als Medienmacher halt nicht mit vernünftiger Einordnung, sondern eher durch Schlagzeilen wie: „Würden Sie für Deutschland sterben?!“ Mit dieser derzeit ubiquitären Frage haben wir die Pazifisten im Land medial bereits fachgerecht durchsiebt und eingesargt. Auf allen Kanälen hauen wir ihnen um die Ohren, dass ihre strikte Ablehnung von Wehr und Waffe einem Aggressor Tür und Tor öffnet. Diskursiv beerdigt ruht der Pazifist als wohlstandsverwahrloster Heuchler, der seine Position einfach nicht zu Ende denken kann. Rest in Peace.
Da sind die Pazifisten schon ehrlicher
Das ist ja das Schöne an diesen Hypothesenhaltungsdebatten: Man kann die andere Seite grillen, während man selbst überhaupt nichts beweisen muss. Dabei ist‘s gut möglich, dass, sollte es je zum angemahnten Ernstfall kommen, sich im Angesicht des Krieges doch der ein oder andere Pazifist für den Kampf entscheidet, während die Maulhelden der Wehrhaftigkeit plötzlich im Südafrikaurlaub weilen und leider, leider nicht zurückkehren können. Was in den gegenwärtigen „Schlag den Pazifisten“-Talkshows geplappert wird, ist von beiden Seiten nichts als dummes Geschwätz.
Überdies ist, das hat ein Dilemma wie dieses so an sich, auch die Haltung der Anti-Pazifisten voller Widersprüche, die aber freilich nicht annähernd so beharrlich ausbuchstabiert werden. Es beginnt schon mit der Frage nach der Freiwilligkeit des Desertierens. Stellt man die Frage, was sie fahnenflüchtigen Ukrainern sagen würden, die sich vor dem Zugriff ihrer Regierung nach Deutschland gerettet haben, so beginnt bei den Anti-Pazifisten das große Murmeln. „Was machen die hier? Die sollen daheim für ihre Freiheit kämpfen!“ war gegenüber Geflüchteten immer eine politisch sehr weit rechts gelagerte Position. Ist das noch so? Oder ist das – zu Ende gedacht – nicht mittlerweile auch die Position der Grünen? Anders gefragt: Kann man „Refugees Welcome!“ rufen, wenn man gleichzeitig wehrunwillige Pazifisten als scheinheilige Egoisten brandmarkt? Und wähnt man sich damit allen Ernstes weniger bigott als die Gegenseite?
Ehrlicher, wenngleich vielleicht auch zynisch, sind vermutlich schon die Pazifisten. Es scheint nämlich gerade diese gnadenlose Ehrlichkeit der Pazifisten zu sein, die die Anti-Pazifisten so sehr in Rage bringt: Aus der pazifistischen Warte sind es die anderen nicht wert, das eigene Leben für sie zu geben. Darin steckt offenkundig eine Abwertung dieser anderen. Und eine Kränkung: Das Land, für das man kämpfen soll, finden gar nicht alle toll.
Denn: Ob man sein Leben für einen Staat riskieren will, hängt ja schon auch vom inkriminierten Staat ab. Die Freiwilligkeit in der Verteidigungsfrage zu stärken, hieße, jenen Staat so zu gestalten, dass für dessen Verteidigung mehr als nur 17 Prozent seiner Einwohner aus Überzeugung gewaltsam eintreten würden (so jüngste Umfragen im defätistischen Deutschland).
Privatversicherte an die Front!
Blöderweise hat uns selbiger Staat mit seinem neoliberalen Kapitalismus jahrzehntelang zu Egomanen erzogen, hat von der Schönheit brutalster Arbeits- und Wohnungsmärkte gesungen, hat schon in der Schule Ellenbogendenken gepredigt, hat „Solidarität“ zum Schimpfwort verklärt. Und verlangt von diesen selbstgeschaffenen Ichlingen plötzlich das allerhöchste Maß an Solidarität: das eigene Leben zu geben. Um den brillantesten Politiker unserer Zeit zu zitieren: „Solidarität ist aber keine Einbahnstraße!“ (Christian Lindner).
Angeführt wird in den Diskussionen darüber, ob Deutschland den eigenen Hinschied wert sei, unter anderem das deutsche Gesundheitswesen. Für eine Zwei-Klassen-Medizin sollten doch aber wohl zuerst deren Profiteure streiten – Privatpatienten an die Front! Wir Kassenkunden haben keine Zeit, wir sitzen noch im Wartezimmer. Als Nachhut senden wir aber unsere Topverdiener – kämpft für eure Beitragsbemessungsgrenze!
Glaubt man den Debattanten, lohne sich das Draufgehen zudem wegen des deutschen Sozialstaats. „Dieser Staat gibt uns so viel“, argumentierte beim „Spiegel“-Spitzengespräch etwa cDU-Politikerin Wiebke Winter, während beinahe zeitgleich ihre Partei-freunde in Berlin zusammen mit den Wertepartnern von der sPD die Möglichkeit eines „vollständigen Leistungsentzugs“ bei der Grundsicherung in den Koalitionsvertrag reinkritzelten. (Das c in cDU und s in sPD ist absichtlich kleingeschrieben – als Freund der Wahrheit sollte man beide Buchstaben eigentlich gar nicht mehr verwenden, aber bei DU und PD weiß keiner, wer gemeint ist.)
Zum Abschluss wollen Sie jetzt selbst-redend wissen, wie ich persönlich diese Gretchenfrage beantworte, die sich mir voraussichtlich nicht stellen wird. Als Schwabe habe ich da einen materialistischen Ansatz: So richtig überzeugend finde ich‘s nicht, dass Menschen in den Krieg ziehen sollen für ein Land, in dem ihnen gar nichts gehört. Mehr als die Hälfte der Menschen in diesem Staat, der uns so viel gibt, besitzt kein Vermögen – wofür sollen die hochmotiviert im Gemetzel meucheln? Für ihren Vermieter? Drum sage ich: keine Verteidigungsbereitschaft ohne Verteilungsbereitschaft! Und knüpfe meinen Wehrwillen an die Vermö-gensteuer. Die möge reaktiviert und an die Militärausgaben gekoppelt werden: Geben wir etwa drei Prozent des BIP für Rüstung aus, soll auch die jährliche Vermögensteuer drei Prozent betragen. Ist doch echt nicht zu viel verlangt für mein Leben, oder? Wenn Sie das umsetzen, Herr Merz, stehe ich Gewehr bei Fuß.
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