piwik no script img

Kolumne ÖkosexVielflieger und Leberwurst

Kolumne
von Martin Unfried

Die Bahn braucht keinen Vielflieger, sondern einen Bahnliebhaber an der Spitze, der uns die Vibrations liefert.

O h, eben erfahre ich: Hartmut, der Wahnchef, hält eine beleidigte Leberwurstrede. So gemein waren sie alle zu ihm. Ich weiß nicht, ob Herr Mehdorn weiß, dass am Schalter, im Zug und im Schlafwagenabteil seine Kollegen auch zu mir nicht immer so freundlich waren. Nicht, dass ich das mit der Niedertracht vergleichen möchte, die Herrn Mehdorn seiner Meinung nach wiederfuhr, aber ich musste mal im Zug 126 Euro für ein neues Ticket zahlen, weil auf meinem Online-Ticket durch einen Fehler des Bahncomputers eine falsche Kreditkartennummer stand. Da sagte der Schaffner, Vorschrift sei Vorschrift. Ich fand das nicht gut. Deshalb kann ich verstehen, dass Hartmut Mehdorn sauer ist. Diese Korinthenkacker, die jede Email auf die Goldwaage legen. Ich hatte mir damals im Zug juristisch auch überhaupt nix vorzuwerfen und habe einen Bundestagsuntersuchungsausschuss gefordert. Darauf wollte sich der Schaffner aber nicht einlassen.

Martin Unfried, Jahrgang 1966, arbeitet als Experte für europäische Umweltpolitik in Maastricht. Er liebt die solare Effizienzrevolution, kauft sich hemmungslos Klimaschutzprodukte und will damit bis 2012 raus sein aus der fossilen Welt. Er singt auch bei Ökosex, der ersten Kolumnenband der Welt.

Jetzt aber im Ernst: im Sinne der nachhaltigen Entwicklung in unserer Heimat der Europäischen Union finde ich es gut, wenn jetzt bald mal ein anderer an der Spitze meines Lieblingskonzerns steht. Wissen Sie, was emotional das Problem vom Bahnchef war? Hartmut Mehdorn hat auf mich niemals den Eindruck vermittelt, er liebe sein Produkt. Ich habe ihm nie abgenommen, dass er ein echter Zugliebhaber ist. Ihm fehlte von anfang an die Aura.

Ein solarer Mobilitätsrevolutionär wie Du und ich, dessen Leben vom Fahrplan abhängig ist, kann sich nicht vorstellen, dass Hartmut Mehdorn wirklich einmal freiwillig, privat die Bahn nutzt. Schon gar nicht den abgeranzten Regionalexpress, der immer noch die Strecke Stuttgart-Schwäbisch Hall-Crailsheim bedient. Nein, sein eigentliches Problem, dass in den Kommentaren überhaupt nicht erwähnt wird, ist und bleibt die katastrophale Vielflieger-Ausstrahlung. Morgens hin, abends zurück. Keine Zeit den Zug zu nehmen. Gemütlich mit einem Buch im ICE sitzen und verständnisvoll nicken, wenn eine zweistündige Verspätung verkündet wird? Nein, das ist sicher eine Fertigkeit, die Hartmut Mehdorn nicht beherrscht.

Apropos Geduld. Die erste Tugend des echten Bahnliebhabers ist Geduld. Geduld und Spucke sind nämlich im System Bahn das Salz in der Suppe. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie der Bahnchef jemals am Automaten geduldig ein Ticket gedruckt hat. Wie jeder Bahnprofi weiß, ist dass anspruchsvoll und dauert ganz schön lang. Wenn aber am Ende was mit der Scheckkarte nicht stimmt, dann kriegen nicht nur kleine Choleriker die Krise. Dann geht meistens die ganze Programmierung flöten und der Zug fährt auch schon ein. Aber bleiben wir beim Problem der Aura und stürzen uns in ein Gleichnis. Könnten Sie sich vorstellen, dass der Applechef den Eindruck vermittelt, er würde sich privat am liebsten mit Windows-Computern vergnügen? Nein, das können Sie nicht. Aber Hartmut Mehdorn hat auf mich nicht nur wie ein Vielflieger gewirkt, sondern noch schlimmer: wie ein Autofahrer. Oder besser noch: wie jemand, der sich von seinem Chauffeur kutschieren lässt. Vielleicht ist das jetzt wieder gemein, aber ich finde, die Bahn braucht an der Spitze jemanden, der uns Usern das Gefühl gibt, wir seien cool, wir seien Avantgarde, wir seien hippe Hippies. Wir Bahnfahrer brauchen einen, der nicht nur uns, sondern unsere Träume transportiert, der uns den EI-CI-IH emotional veredelt und die Regiobahn dazu. Einer der ausstrahlt, dass unser Betriebssystem definitiv das Bessere ist. Das kann ein Vielflieger einfach nicht leisten. Eine beleidigte Leberwurst auch nicht. Bleibt die Frage der Abfindung. Es gibt zwei Dinge, die ich ökosexmässig gerne hätte. Eine eigene Enercon 126 mit 6 Megawatt Leistung und ohne Getriebe, mit der ich Strom für 5.000 Haushalte machen würde. Und mein zweiter bescheidener Wunsch: eine Bahncard 100 ausgestellt bis ans Ende meiner Tage. Ob Hartmut Mehdorn für den Rest seines Lebens gratis Bahn fahren darf? Das wäre schade. Schweinebraten für einen Vegetarier.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen