Kolumne Nachbarn: Unsere Bilder, eure Welt
Als Kinder und Jugendliche faszinierten uns Geschichten, Filme und Promis aus Europa bis ins Detail. Von uns wusste der Westen hingegen nichts.
I n der Grundschule unseres Dorfs in der syrischen Provinz Latakia verlangte die Kunstlehrerin, dass wir ein Landschaftsbild malten. Als wir fertig waren, sammelte sie die Arbeiten ein und benotete alle mit der Note „gut“: Fast alle Bilder waren identisch.
Rechts oder links ins Bild malten wir ein großes Haus mit schrägem Ziegeldach und einem Schornstein. Manche malten sogar eine Rauchwolke, die aus dem Schornstein emporstieg und über die Berge hinter dem Haus hinwegzog. Die Bergkette erstreckte sich über die ganze Breite des Bilds und wurde wellenartig gemalt.
Neben das große Haus setzten wir ein kleines Häuschen, ebenfalls mit schrägem Ziegeldach sowie einem Huhn und ein Paar Küken davor. Wir malten einen Fluss, der in den Bergen als schmales Bächlein entsprang und zur unteren Bildecke hin immer breiter wurde. Selbstverständlich durfte eine Holzbrücke nicht fehlen, denn schließlich mussten beide Ufer miteinander verbunden werden. Auf den Fluss malten wir noch ein Paar Enten und Schwäne sowie ein Holzboot. Das alles war in saftig grüne, mit bunten Rosen gesprenkelte Wiesen eingebettet und von strahlend blauem Himmel bedeckt.
Es sah wunderschön aus, hatte mit der Landschaft bei uns aber nichts zu tun. Vielleicht wurde uns nie aufgetragen, unsere eigene Umgebung zu malen. Oder womöglich lag es daran, dass uns die eigene Landschaft gewöhnlich erschien. Fasziniert waren wir von den Landschaftsbeschreibungen in den Märchen der Brüder Grimm oder in den „Heidi“-Büchern, von alldem eben, was wir in unserer Kindheit über Europa erfuhren.
Schiffer und Schumacher
Später, in der Pubertät, interessierte ich mich mehr für Claudia Schiffer, deren Poster die Zimmer der Jungs zierten. Einmal erzählte mir ein Freund, dass er sie eines Tages heiraten würde. Leider starb er im Krieg. Als ich davon erfuhr, dachte ich, vielleicht sollte ich Claudia Schiffer über den Tod ihres unbekannten Verehrers informieren.
Eine ernst zu nehmende Konkurrenz für Claudia Schiffer war nur Michael Schumacher. Während sich das Bild Schumachers ins Gedächtnis der Jungs und Sportfans eingrub, wurde das Bild der blonden Claudia Schiffer in meinem Bewusstsein zum Symbol der europäischen Weiblichkeit.
Als junge Menschen lasen wir Goethe, Hugo, Dickens und Dostojewski in arabischer Übersetzung. Philosophiebegeisterte konnten sich die Werke von Nietzsche, Marx, Hegel und anderer zu Gemüte führen. Das europäische Kino erfreute sich großer Beliebtheit. Heute ist der Westen zum Ort der Flucht meiner Landsleute vor dem Krieg geworden. Viele Einzelheiten über den Westen waren uns vertraut. Doch über uns wusste der Westen nur wenig.
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind