Kolumne Männer: Ziemlich beste Freunde

Männer werden unter Stress von Natur aus aggressiv? Kirmesboxer beweisen das Gegenteil.

Wer Charly Schultz heißt und Boxbudenbesitzer ist, dessen Leben hat bestimmt die eine oder andere interessante Abzweigung genommen. Charlys Weg führte neulich zur Rheinkirmes in Düsseldorf. Vor seinem Zelt lockte der rundliche, ältere Herr mit der heiseren Stimme Passanten an. Sieben Euro sollten sie zahlen, um zuzusehen, wie untrainierte Menschen sich mit echten Boxern messen.

„Sportstudent, Türsteher, Geldeintreiber, Arzthelferin“, rief Charly, „alle Gesellschaftsschichten sind vertreten.“ Da wir an anderen Tagen schon 10 Euro zahlen müssen, nur um eine Arzthelferin zu sehen, waren meine Freunde und ich schnell überzeugt.

Vorm ersten Kampf erklärte Charly die Regeln. Dem Geldeintreiber, einem über und über tätowierten, breitschultrigen Mann in den Vierzigern, sagte er: „Verstehen? Bei K. o. gibt’s Geld. Bei kaputt gibt’s Staatsanwalt und zehn Jahre.“ Der Geldeintreiber sah die Möglichkeit, dass er selbst auf die Bretter geht, gelassen: „Wenn die Lichter ausgehen, ist auch kein Problem.“

Wir waren überrascht über das, was dann geschah. Der Tattoo-Mann trat gegen einen jungen, trainiert wirkenden Boxer an. Doch statt einander, wie es das Publikum wünschte, „In die Fresse!“ zu hauen, gingen die Kämpfer geradezu pfleglich miteinander um. Keine Tief-, keine Nierenschläge. Man konnte fast glauben, beim Kirmesboxen gehe es nicht mit rechten Dingen zu. Freiburger Wissenschaftler hätten uns sagen können, was wirklich dahinter steckt.

Eine Forschungsgruppe unter Leitung der Freiburger Psychologen und Neurowissenschaftler Markus Heinrichs und Bernadette von Dawans hat in einer Studie untersucht, wie Männer in Stresssituationen reagieren. Das Ergebnis, heißt es in der Pressemitteilung der Uni, widerlege eine fast 100 Jahre alte Lehrmeinung. Der zufolge zeigen Menschen und die meisten Tierarten bei Stress die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“. Erst seit Ende der 90er, so die Forscher, vertreten einige Wissenschaftler die These, Frauen handelten unter Stress alternativ nach dem „Tend-and-befriend-Konzept“. Sie reagierten auf Stress mit einem beschützenden („tend“) und Freundschaft anbietenden („befriend“) Verhalten.

Männern hingegen wird nach wie vor unterstellt, sie würden bei Stress aggressiv. Zu Unrecht, sagt von Dawans: „Offenbar zeigen auch Männer soziales Annäherungsverhalten als unmittelbare Konsequenz von Stress.“ Das Klischee des vom Natur aus aggressiv reagierenden Mann ist vor allem eins: ein Klischee.

Als die drei Aushilfsboxer ihre Kämpfe überraschend gewonnen hatten, standen sie am Zeltrand beieinander, gaben einander Feuer. Der Gedanke drängte sich auf, dass ihre Lebenswege und der von Charly Schultz sich nicht erst heute gekreuzt hatten. Türsteher, Sportstudent und Geldeintreiber sahen dem Kampf der Arzthelferin zu. Die schöne, junge Frau um die 20 hatte offensichtlich keinen Stress, denn sie haute richtig drauf. Ihr Gegner, ein junger Athlet, tänzelte durch den Ring und schlug kein einziges Mal zurück. Schließlich sollte das Ganze nicht in einen Boxkampf ausarten.

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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