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Kolumne MännerZiemlich beste Freunde

Matthias Lohre
Kolumne
von Matthias Lohre

Männer werden unter Stress von Natur aus aggressiv? Kirmesboxer beweisen das Gegenteil.

W er Charly Schultz heißt und Boxbudenbesitzer ist, dessen Leben hat bestimmt die eine oder andere interessante Abzweigung genommen. Charlys Weg führte neulich zur Rheinkirmes in Düsseldorf. Vor seinem Zelt lockte der rundliche, ältere Herr mit der heiseren Stimme Passanten an. Sieben Euro sollten sie zahlen, um zuzusehen, wie untrainierte Menschen sich mit echten Boxern messen.

„Sportstudent, Türsteher, Geldeintreiber, Arzthelferin“, rief Charly, „alle Gesellschaftsschichten sind vertreten.“ Da wir an anderen Tagen schon 10 Euro zahlen müssen, nur um eine Arzthelferin zu sehen, waren meine Freunde und ich schnell überzeugt.

Vorm ersten Kampf erklärte Charly die Regeln. Dem Geldeintreiber, einem über und über tätowierten, breitschultrigen Mann in den Vierzigern, sagte er: „Verstehen? Bei K. o. gibt’s Geld. Bei kaputt gibt’s Staatsanwalt und zehn Jahre.“ Der Geldeintreiber sah die Möglichkeit, dass er selbst auf die Bretter geht, gelassen: „Wenn die Lichter ausgehen, ist auch kein Problem.“

Bild: privat

Matthias Lohre ist Parlamentsredakteur der taz.

Wir waren überrascht über das, was dann geschah. Der Tattoo-Mann trat gegen einen jungen, trainiert wirkenden Boxer an. Doch statt einander, wie es das Publikum wünschte, „In die Fresse!“ zu hauen, gingen die Kämpfer geradezu pfleglich miteinander um. Keine Tief-, keine Nierenschläge. Man konnte fast glauben, beim Kirmesboxen gehe es nicht mit rechten Dingen zu. Freiburger Wissenschaftler hätten uns sagen können, was wirklich dahinter steckt.

Eine Forschungsgruppe unter Leitung der Freiburger Psychologen und Neurowissenschaftler Markus Heinrichs und Bernadette von Dawans hat in einer Studie untersucht, wie Männer in Stresssituationen reagieren. Das Ergebnis, heißt es in der Pressemitteilung der Uni, widerlege eine fast 100 Jahre alte Lehrmeinung. Der zufolge zeigen Menschen und die meisten Tierarten bei Stress die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“. Erst seit Ende der 90er, so die Forscher, vertreten einige Wissenschaftler die These, Frauen handelten unter Stress alternativ nach dem „Tend-and-befriend-Konzept“. Sie reagierten auf Stress mit einem beschützenden („tend“) und Freundschaft anbietenden („befriend“) Verhalten.

Männern hingegen wird nach wie vor unterstellt, sie würden bei Stress aggressiv. Zu Unrecht, sagt von Dawans: „Offenbar zeigen auch Männer soziales Annäherungsverhalten als unmittelbare Konsequenz von Stress.“ Das Klischee des vom Natur aus aggressiv reagierenden Mann ist vor allem eins: ein Klischee.

Als die drei Aushilfsboxer ihre Kämpfe überraschend gewonnen hatten, standen sie am Zeltrand beieinander, gaben einander Feuer. Der Gedanke drängte sich auf, dass ihre Lebenswege und der von Charly Schultz sich nicht erst heute gekreuzt hatten. Türsteher, Sportstudent und Geldeintreiber sahen dem Kampf der Arzthelferin zu. Die schöne, junge Frau um die 20 hatte offensichtlich keinen Stress, denn sie haute richtig drauf. Ihr Gegner, ein junger Athlet, tänzelte durch den Ring und schlug kein einziges Mal zurück. Schließlich sollte das Ganze nicht in einen Boxkampf ausarten.

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Matthias Lohre
Schriftsteller & Buchautor
Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wurde von der Kritik gefeiert. Anfang 2025 veröffentlichte er seinen zweiten Roman "Teufels Bruder" über Heinrich und Thomas Mann in Italien.

3 Kommentare

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  • S
    Schön,

    Herr Lohre.

    Nett zu lesen, ich wußte gar nicht, daß es so etwas tatsächlich noch gibt auf Jahrmärkten.

    Allerdings, zu Ihren Verallgemeinerungen, da denke ich eher, es verhält sich einfach so:

    Jeder Jeck ist anders

  • B
    Boxerzentrismus

    Nicht "Menschen und die meisten Tierarten", sondern "Menschen und die meisten anderen Tierarten". Oder zählen Sie den Menschen zu den Mineralien?

  • A
    anke

    Finden Sie nicht auch, Herr Lohre, dass diese als Wissenschaft verkleidete Vorurteilsbäckerei unter Strafe gestellt gehört? Nicht nur das Klischee des von Natur aus aggressiv reagierenden Mann ist vor allem ein Klischee. Das von der tend-and-befriend-praktizierenden Frau ist kein Stück besser. Meine Lust aufs Freund-sein-und-beschützen jedenfalls lässt stark zu wünschen übrig unter Stress. Neuerdings setze ich mich vorsichtshalber jedes Mal auf meine Hände, wenn mir mal wieder jemand unbedingt mitteilen muss, welch ein unmöglicher Mensch ich seiner Ansicht nach bin. Und das, obwohl ich alle körperlichen Merkmale weiblicher Menschen trage. Sie wissen schon: geringe Körpergröße, breites Becken, Taille kleiner als Brustumfang und so weiter. Vermutlich ist sogar mein Gehirn leichter als das der meisten Männer. Leider fühlt es sich mitunter nicht so an. Ich frage Sie, Herr Lohre: Was soll denn unsereine von diesen ganzen neumodischen Psycho-Weisheiten halten? Ich sage es Ihnen: Nichts. Gar nichts sollte ich davon halten. Ignorieren sollte ich das blöde Jahrmarkt-Geschwätz. Und genau das sollten Sie auch tun. Bloß... – was wird dann aus Ihrer Kolumne?