Kolumne Macht: Der bequeme Zorn

Stirbt ein vernachlässigtes Kind, ist die Mehrheit wütend auf die Ämter. Zugleich findet sie Sparen unvermeidlich

Kaum etwas empört die Öffentlichkeit in vergleichbarem Maße wie der Tod eines vernachlässigten oder misshandelten Kindes - und Empörung braucht Schuldige, gegen die sich der Zorn richten kann. In derartigen Fällen sind die immer schnell gefunden: Sozialarbeiter, Jugendamt und andere Behörden, die sich "nicht gekümmert" oder "weggeschaut" haben. Sehr bequem.

Er sei nicht sicher, ob sich die Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt noch verantworten ließen, sagt der Leiter eines Berliner Jugendamtes. Er sagt auch, dass er in den letzten Jahren mehrfach überlegt habe, seinen Job aufzugeben. Die Sparzwänge der letzten Jahre hatten zunächst schleichende, aber aufs Ganze gesehen dramatische Folgen. "Jeder und jede Einzelne bearbeitet inzwischen etwa 100 Fälle." Das sei etwa ein Drittel mehr, als von Fachgremien empfohlen. Der Anteil der Verwaltungsarbeit habe sich in den letzten fünfzehn Jahren fast verdoppelt.

"Um ein Beispiel zu nennen: Familienhilfe darf eigentlich einen Umfang von sechs Stunden pro Woche nicht überschreiten. Wenn man das für zu wenig hält, muss man in die Hierarchien gehen und ungeheure Begründungszusammenhänge konstruieren. Natürlich führt das auch zu internen Konflikten. Bei Sozialarbeitern stellt sich oft die Frage: Welche Angst ist größer: die vor den Vorgesetzten oder die, dass etwas schiefgeht?"

Und dann geht eben manchmal etwas schief.

Nicht nur in Jugend- und Familienhilfe. Der Chefarzt einer Klinik in Nordrhein-Westfalen schildert, wozu Sparen im Gesundheitswesen führen kann: "Eine 89-Jährige, die bei ihren Kindern wohnte, hatte sich am Freitagabend einen komplizierten Oberarmbruch zugezogen. Die Kinder waren im Urlaub und sollten am Sonntag zurückkommen." Der Arzt nahm die Patientin für zwei Tage stationär in der Klinik auf. "Die Frau konnte sich in der Situation nicht alleine versorgen. Was ist, wenn sie nachts beim Gang ins Bad stürzt, weil sie mit dem ungewohnten Verband nicht zurechtkommt?" Seine Stimme bebt.

Die Krankenkasse weigerte sich, die Kosten zu übernehmen: Ein Oberarmbruch sei keine Indikation für einen stationären Aufenthalt. Nach langem Streit blieb die Klinik auf den Kosten sitzen - das ist nichts, was einem Verwaltungsrat gefällt. Und nichts, was sich selbst ein Chefarzt oft leisten sollte. Dem Zwang der Verhältnisse steht inzwischen selbst die Leitungsebene ohnmächtig gegenüber. "Die Betrachtung von Krankheit wird zunehmend mechanistischer. Der soziale Aspekt fällt weg. Der Mensch als solcher und seine Lebensumstände werden von dem System entkoppelt."

Natürlich kennen wir alle solche Erzählungen und Geschichten, seit Jahren. Aber Reformen können eben nicht jeden Einzelfall berücksichtigen. Findet jedenfalls die Mehrheit derer, die nicht betroffen sind. Die findet auch, dass Reformen nötig und Sparmaßnahmen im Sozialbereich zwar gelegentlich bedauerlich, aber insgesamt unvermeidlich sind. Zumal man ja auch Sozialschmarotzern das Handwerk legen muss. "Bei Streitfällen wie dem um die 89-jährige Patientin steht unausgesprochen dahinter immer die Unterstellung: Das Krankenhaus will die Kasse bescheißen", sagt der Chefarzt.

Und wenn ein vernachlässigtes Kind zu Tode kommt, dann weiß man ja auch, wer schuld ist. Eben das Jugendamt. Die Öffentlichkeit hat damit nichts zu tun.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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