Kolumne Lost in Trans*lation: Mein Triumph der Sichtbarkeit
Für mich als türkische trans Journalistin war Eurovision in den letzten Jahren in der Hintergrund getreten. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt.
D er Eurovision Song Contest ist das wichtigste Musikevent meiner Generation. Tagelang bereiteten wir uns früher darauf vor und warteten bis spät in die Nacht vor dem Fernseher auf die Ergebnisse. Am Tag darauf sprachen alle auf der Straße über den ESC. In unserer Wohnung gab es einen riesigen Schwarzweiß-Fernseher. Nachdem alle ins Bett gegangen waren, schaute ich heimlich den Song Contest an. Wenn meine Mutter nachts aufwachte und mich vor dem Bildschirm sitzen sah, murrte sie für gewöhnlich. Und trotzdem bereitete sie schon tagsüber im Holzofen das Kürbisdessert zu, das ich so liebte, damit ich es beim Fernsehen essen konnte.
Meine ganze Kindheit konnte die Türkei beim ESC nie einen Preis holen, aber der Song Contest wurde trotzdem stets mit einer großen Begeisterung verfolgt. Die Türkei nahm das letzte Mal 2012 am ESC in Baku teil. Der türkische Staatssender TRT erklärte, das liege daran, dass sich die Regeln des ESC geändert hätten.
Aber eigentlich ging es um etwas anderes. Die AKP und die Gülen-Bewegung rissen das Land in einen Strudel. Diesen Strudel nennt man politischen Islam. Danach erinnerte sich niemand mehr an den Eurovision Song Contest. Als Exil-Journalistin, die vor diesem System geflohen ist, habe ich nun Jahre später wieder die Begeisterung von früher erlebt. Den Song Contest live im Fernsehen zu sehen, ist ein großes Glück. Genau wie in meiner Kindheit.
Am Abend des ESC strahlte das Erste ein Eurovision-Spezial aus. Eine Moderatorin namens Barbara Schöneberger trat auf die Bühne. Sie scheint bekannt zu sein. Für mich war sie eine Enttäuschung. Nachlässiges Makeup, eine katastrophale Frisur und ein absurdes Kleid. Schuhe, die allein als schön durchgehen könnten, aber unter diesem Kleid regelrecht traurig waren. Wer in einer solch besonderen Nacht die Bühne betritt, sollte sich unbedingt davor professionelle Hilfe suchen.
Sichtbarkeit
Dann ging endlich die Liveübertragung in Tel Aviv los. Beim berühmten Lied “Im Nin’ Alu“ von Ofra Haza geriet ich in Aufregung. Als dann Dana International auf die Bühne kam, brachen bei mir die Dämme und ich fing an zu schluchzen. Eine trans Sängerin eröffnete den Song Contest und die ganze Welt sah live zu. Ein großer Schritt für die Rechte und die Sichtbarkeit von trans Personen.
Alles war so professionell und fehlerlos, dass mit dieser Nacht der Geist des ESC zurückkehrte. Die Bühnenshows, die schicken Moderator*innen, das Sound- und Lichtsystem – alles war herausragend. Mit Malta fing der Wettbewerb an und ich nahm meinen Stift und das Papier zur Hand, das ich vorbereitet hatte und begann, meine Punkte zu vergeben. Genau wie in meiner Kindheit.
Meine Favoriten waren Nordmazedonien, Großbritannien und die Niederlande. Am Ende gewann Holland. Auch wenn meine Mutter, die mir tagsüber Dessert zubereitet, nicht da war, war es ein großes Vergnügen, Jahre später wieder den Eurovision Song Contest im Fernsehen zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch