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Kolumne LidokinoRuhm vergeht mit jeder neuen Welle

Agnès Vardas autobiografischer Essay "Agnes Strände" erzählt von ihren Experimenten, Erfolgen, Küsten und Stränden.

Ein Palmenzweig, ein Bär, ein Markuslöwe und ein gutes Dutzend andere bronzene, silberne oder goldene Statuen stehen am Strand in einer langen Reihe. Die Kamera fährt an ihnen entlang; klein sind sie und nicht besonders schön. In der Ansammlung wirken sie wie Trophäen aus einer vergangenen Zeit, so, als hätte jemand sein Haus ausgemistet und die überflüssigen Dinge vor die Tür gestellt. Als eine Welle die Statuen umspült, stört sich niemand daran.

Diese Szene findet sich in Agnès Vardas autobiografischem Essay "Les Plages dAgnès" ("Agnes Strände"), der außer Konkurrenz gezeigt wird. Die Strände, sagt die 1928 geborene Filmemacherin, sind immer da, sie bestehen unabhängig vom Vergehen der Zeit. Die Preise der Filmfestivals hingegen sind vergänglich; eine Welle reicht, und sie versinken. Schwer zu sagen, ob es Bescheidenheit oder als Nonchalance getarnte Eitelkeit ist, wenn Varda an ihren Ruhm weniger gern zurückdenkt als an die Strände und Küsten, die ihr Leben geprägt haben. Das sind zunächst die weiten Strände der belgischen Küste, wo die Familie Varda bis 1940 die Sommerfrische verbrachte, dann der Hafen der südfranzösischen Stadt Sète, wo die Vardas nach ihrer Flucht aus Brüssel auf einem Boot unterkamen, das ist Venice Beach, den Varda ins Herz schloss, als sie an der Seite ihres Mannes Jacques Demy in Los Angeles lebte, schließlich sind es die Strände der Insel Noirmoutier, wo sie sich ein Refugium schufen.

Varda stellt Kindheits- und andere Erinnerungen nach. "An jedem zweiten Tag ging einer von uns über Bord", erläutert sie aus dem Off, während Kinder in altertümlichen Schwimmwesten auf einem Boot in Sète herumtollen und ins Hafenbecken plumpsen. Erinnerungen an die frühen Tage der Nouvelle Vague und an die Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre in den USA gesellen sich hinzu. Varda begleitet die Black Panther mit der Kamera, ohne dass das politische Interesse dasjenige an Pop überstrahlte. Besonders beeindruckend gerät die Collage aus Film und Leben, wenn die Regisseurin von ihrem feministischen Engagement spricht. Standbilder demonstrierender Frauen auf den Straßen von Paris sind zu sehen, dazu kommen Ausschnitte aus "Sans toi ni loi" ("Vogelfrei", 1985).

Oft sieht man in "Les plages dAgnès" die Regisseurin, wie sie, auf einer Seebrücke, an einem Strand, rückwärts geht - zurück in der Zeit, im müßigen Versuch festzuhalten, was vergangen ist. Der japanische Filmemacher Mamoru Oshii dagegen hält in seinem Wettbewerbsbeitrag, dem Anime "The Sky Crawlers", die Zeit gleichsam an, indem er Figuren erfindet, die nicht altern - so genannte Kildren. Zeit ihres Lebens bleiben sie Teenager. Verdingten sie sich nicht als Kampfflieger für ein kriegstreibendes Unternehmen namens Rostock, sie stürben nie. Wer besonders gut fliegt, lebt besonders lange, ohne dass sich irgendetwas an seinem Dasein änderte. "Ich will nicht länger in dieser immer währenden Gegenwart gefangen sein", klagt eine Pilotin. Doch "The Sky Crawlers" lässt ihr und den übrigen Figuren nur die Wahl zwischen dem Tod und der ewigen Gegenwart.

Damit ist Oshiis Film trotz der lichten Animation ähnlich düster wie Werner Schroeters Film "Nuit de chien" ("Hundsnacht"), der auf einem Roman des Uruguayers Juan Carlos Onetti beruht und im Wettbewerb gezeigt wird. "Nuit de chien" beginnt und schließt mit einem Zitat aus dem Off, das von der Unausweichlichkeit des Todes handelt. Die 105 Minuten dazwischen bewegen sich dementsprechend zielstrebig auf den Tod der Hauptfigur zu. Schroeters Film mag seiner theatralischen, symbolschweren Mise en Scène wegen démodé erscheinen, doch ist er gerade in seiner Bühnenhaftigkeit souverän und in seinem Nihilismus konsequent. Und wer wollte behaupten, dass Formsprachen nur zu einer bestimmten Zeit funktionieren, vergehen und daraufhin nie wieder auftauchen dürfen? CRISTINA NORD

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