Kolumne Laufen: Frau Ypsilanti, hauen Sie rein!
Wie Wolfgang Clements Mütze mich daran erinnerte, dass ich noch eine sehr alte Flasche Sekt im Keller habe.
Der Marathonmann Wolfgang Clement hat sich zu Wort gemeldet. Man sah ihn bei einer Nachrichtensendung im Sportdress auf eine Kamera zulaufen. Er schwitzte und prustete, blieb stehen, zupfte an einer alten Mütze und redete dann blödes Zeug.
Dieter Baumann (42) ist mehrfacher Olympiasieger in verschiedenen Laufdisziplinen, arbeitet als Motivationstrainer und Autor. Er träumt davon, ein "Lebensläufer" zu sein, für den der Weg immer wichtiger bleibt als das Ziel.
Wahrscheinlich befand er sich wegen des Laufens in einer Art Sauerstoffschuld, doch Clements Konditionszustand soll nicht Gegenstand dieses Textes sein. Denn es war seine Mütze, die mich in den Bann zog - eine völlig untypische Laufbekleidung. Das viel zu kleine Teil mit verkürztem Sonnenschild erinnerte mich sofort an Hans-Jürgen Orthmann. Unter Läuferkreisen besser bekannt als "Sehne" Orthmann oder eben - der "Mann mit der Mütze". Er ist natürlich kein Vergleich mit Wolfgang Clement, denn der "Mann mit der Mütze" war in der Läuferszene zu meiner Jugendzeit ein echter Star, gleichzeitig ein Unikat. Beides ist Clement nicht. Denn sonst müsste er seine kärgliche Ministerpension nicht mit Lobbyarbeit bei RWE aufbessern.
Wie auch immer: Vor vielen Jahren schlug mir "Sehne" Orthmann eine Wette vor. Er wäre innerhalb eines Jahres dreimal Deutscher Jugendmeister geworden: im Cross, in der Halle und unter freiem Himmel. Wenn es mir gelänge, mit ihm gleichzuziehen, würde er mir eine Flasche Sekt bezahlen. Kaum hatte ich im darauf folgenden Sommer die dritte Meisterschaft errungen, stand er mit einer Flasche Sekt vor mir. Ich habe den Preis als eine Art Wanderpokal verstanden, und so steht die Flasche Sekt noch immer bei mir im Keller. Die Frage ist, wer hat den guten Tropfen verdient? "Sehne" Orthmann war Spezialist im Crosslaufen. Seinen größten Triumph feierte er mit dem 2. Platz bei der Cross-WM 1974. Schlammschlachten waren sein Fachgebiet. Womit wir wieder bei Wolfgang Clement wären. Vielleicht fiel seine Wahl deshalb auf diese Mütze
In seinen Augen jedenfalls soll Roland Koch weiter Ministerpräsident von Hessen bleiben. Dabei ist Koch etwas passiert, was "Sehne" Orthmann nie passiert ist: Koch hat sich in den Runden verzählt und den Endspurt zu früh angezogen. Die Konkurrenz in seinem Nacken wundert sich zwar ob des vorübergehend schnellen Tempos, aber sie braucht nur in sicherem Abstand auf die totale Erschöpfung zu warten. In der Läuferfachsprache würde ich sagen: Der ist platt, grau oder total übersäuert.
Erst "Kinder in den Knast", dann "Verschärfung des Jugendvollzuges", dazu ausländerfeindliche Vermischung in den Diskussionen um Jugendkriminalität. Der Hohn des Ganzen ist schließlich die Tatsache, dass unter seiner Regierung ein Stellenabbau in diesem Bereich stattfand, der eine sinnvolle Betreuung von straffälligen Jugendlichen im Sinne einer gesetzlich geschuldeten Prävention geradezu unmöglich macht. Als Coach würde ich ihm am liebsten zurufen: Steig doch einfach aus!
Bei meiner letztjährigen Laufaktion in Jugendstrafvollzugsanstalten gab ich keinem der Jungs diesen Tipp. Bei denen lohnt sich noch das Dranbleiben. Aber man erzählte mir folgende Geschichte: Vor einigen Jahren war es abends bis spät in die Nacht auf dem Gelände der Anstalt sehr laut. Nach Zellenschluss hingen die Jugendlichen an den Fenstern und erzählten sich von Zelle zu Zelle ihre Geschichten und Träume. Besonders laut war es im Sommer - in den Zellen war es über 30 Grad heiß, erst in der Nacht wurde es erträglicher. Die Anwohner in unmittelbarer Nähe der Anstalt beschwerten sich zu Recht über den nächtlichen Lärm. Was also tun? Bessere Sportausstattung anschaffen, damit sich die Jungs abreagieren und austoben können, oder gar mehr Personal, insbesondere mehr Sportlehrer, um dem Austoben noch eine pädagogische Richtung zu verpassen? Nein, man entschied sich für Fernseher. Auf jede Zelle kam ein Gerät, und schon war Ruhe.
Wer also verdient den Wanderpokal von "Sehne" Orthmann mehr als diejenige, die Roland Koch am Sonntag besiegt? Frau Ypsilanti, hauen Sie rein, da geht noch was! Die Flasche Sekt bringe ich mit dazugehörender Mütze am Montag gleich vorbei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann