Kolumne Knapp überm Boulevard: Weniger Ich
Die Frage an die Schule muss lauten: Welche Art von Subjekten soll sie am Ende ihrer Tätigkeit der Gesellschaft, dem Leben, übergeben.
B ildung ist heute die zentrale Integrationsmaschine. In der langen Nachkriegszeit war dies der Wohlfahrtsstaat, der nicht nur volkswirtschaftliche Steuerung, sondern auch soziale Integration garantierte.
Heute, wo diese Verbindung zunehmend brüchig wird, kommt der Bildung die Hauptlast der symbolischen Integration zu. Ob sie dieser (überfordernden) Aufgabe tatsächlich durch mehr Kreativität und Autonomie nachkommen kann – wie derzeit gefordert wird –, ist allerdings fraglich.
Die grundlegende Frage zur Bildung lautet: Welche Art von Subjekten soll erzeugt werden, von welcher Subjektvorstellung lässt man sich leiten? Und da muss man eine Verschiebung feststellen: Die „Schule des 21. Jahrhunderts“ erzieht nicht mehr vorrangig Citoyens, also Staatsbürger, die am Gemeinwesen teilnehmen.
In einer Gesellschaft der verallgemeinerten Konkurrenz haben Bildungsinstitutionen ein anderes Subjekt im Blick: das marktkompatible Individuum, den Homo oeconomicus. Dieser Homo oeconomicus ist längst nicht mehr die Krämerseele des alten Bourgeois. Dieser Homo oeconomicus ist die neoliberale Übersetzung von dem, was man früher die gesamte Person – das Individuum in seiner ganzen Bandbreite – genannt hat: Er ist das Humankapital.
Optimiert euch
ist freie Publizistin und lebt in Wien.
Der Imperativ des Humankapitals lautet bekanntlich: Optimierung. Und Bildung ist die wesentliche Investition in dieses Humankapital. Das ist ja alles längst Gemeingut. Ebenso wie die Tatsache, dass der Neoliberalismus die wichtigste Ressource des Humankapitals angezapft hat: die Seelenkräfte. Diese altmodischen Seelenkräfte sind ja das, was das Subjekt funktionieren lässt – genauer gesagt: die Seelenkräfte sind das, was das Subjekt von alleine funktionieren lässt.
Für diese Art von Subjektproduktion sind Disziplinarmechanismen gänzlich ungeeignet. Deshalb ist die Disziplinierung – das Überwachen, das Kontrollieren, das Strafen – zwar nicht verschwunden, aber sie ist längst nicht mehr der vorherrschende Betriebsmodus in den Bildungsinstitutionen. Mit Disziplinierung alleine produziert man nämlich keine selbstaktiven, selbstgesteuerten Subjekte. Dazu braucht es nämlich, genau: Kreativität, Eigeninitiative, Autonomie.
Eben dies subvertiert natürlich die alte Vorstellung, dass Bildung gleichbedeutend mit Emanzipation ist. Genau jene Attribute des Subjekts, die im Dienste der Emanzipation stehen sollten – von Selbstverantwortung bis Eigensinn –, haben sich zur Ressource der neoliberalen Subjektivität verwandelt. Das ist wie bei einem Judotrick, wo die Kräfte des Gegners gegen diesen verkehrt werden.
Eben deshalb müsste eine Bildungsdebatte heute eine ganz neue Frage aufwerfen, die Frage: Kann Bildung heute noch Teil einer „Verhaltensrevolte“ (nach dem schönen Wort von Michel Foucault), Teil einer Veränderung der Verhaltensführung sein? Oder dient sie nur dem Anschluss an die große Ich-Maschine der Gesellschaft? Das ist nichts anderes als eine zeitgemäße Formulierung der alten Frage, ob Bildung noch emanzipatorisch sein kann.
Es fehlt der Citoyen
Für diese Aufgabe braucht es in den Bildungsinstitutionen aber nicht einfach mehr sogenannte Kreativität und Autonomie. Denn der solcherart kreative und autonome Homo oeconomicus ist ohnehin der vorherrschende, der tonangebende Subjekttypus. Wir sind alle weit mehr Homo oeconomicus, als wir glauben.
Woran es aber mentalitätsmäßig mangelt, ist jener andere Subjekttypus, der Citoyen oder das Rechtssubjekt in einer aktualisierten Version. Ein Subjekt also, dass nicht nur, kreativ und autonom, über die Verfolgung seiner eigenen Interessen funktioniert. Denn heute ist selbst der Raum des Politischen von Wirtschaftssubjekten bewohnt.
Bildungsnotwendig wäre es also, nicht mehr Marktkompatibilität zu erzeugen, sondern weniger. Unsere Bildungsinstitutionen bedürfen tatsächlich einer neuen Zielvorgabe: der Vorstellung eines politischen Subjekts unter heutigen Bedingungen. Kurzum – Bildung muss heute nicht Erziehung zu mehr Ich, sondern Erziehung zu weniger Ich sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene