Kolumne Knapp über dem Boulevard: Fragmente statt Volkspartei
Der Niedergang einer Volkspartei ist nicht das Ende eines großen monolithischen Blocks. Eine Volkspartei ist die Verbindung unterschiedlicher, disparater Strömungen.
B ereits im dritten Satz ihrer ersten Reaktion auf das Wahlergebnis sagte Angela Merkel, sie wolle "eine Kanzlerin für alle Deutschen" sein. Natürlich ist dieser Satz eine gängige Floskel. Aber gleichzeitig hat er auch das Spezifische der derzeitigen Situation auf den Punkt gebracht. Denn das war die Wahl, bei der die Krise der Volksparteien manifest wurde. Vor allem natürlich jene der Sozialdemokratie mit ihrem desaströsen Ergebnis (aber auch jene der Union, die sich "zum Sieg verloren hat", wie die Frankfurter Rundschau so hübsch formulierte).
Der Niedergang einer Volkspartei ist nicht das Ende eines großen monolithischen Blocks. Das ist kein homogenes Ganzes, keine Institution aus einem Guss, die da ins Trudeln kommt. Eine Volkspartei ist die Verbindung unterschiedlicher, disparater Strömungen. Vom Arbeiter bis zum Intellektuellen, vom Kleinbürger bis zu den fortschrittlichen Eliten - alle sollen hier Platz finden. Das Volk der Volksparteien ist also alles andere als ein einheitliches Subjekt. Um als solche zu funktionieren, müssen Volksparteien eine große integrative Kraft entwickeln. Damit hatten sie historisch eine Funktion, die weit über ihre eigene Klientel hinausging. Sie haben Binnenstrukturen zur Überwindung von Differenzen zur Verfügung gestellt und damit ihren Teil bei der Herstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts geleistet.
Dazu mussten sie ein Angebot machen, das als gemeinsamer Nenner disparate Elemente umfassen konnte. Gleichzeitig musste dieses Angebot so konkret und vielfältig sein, wie es den Interessen der vielen zu verbindenden Schichten entsprach. Diese Aufgabe kam demnach einem Spagat zwischen Interesse und Repräsentation gleich. Man musste die handfesten Interessen vertreten in den sogenannten teilbaren, also verhandelbaren Konflikten, wo durchaus Kompromisse möglich sind. Und man musste gleichzeitig etwas repräsentieren, was den Gruppen jenseits ihres ökonomischen Interesses eine politische Identität anbietet, die "unteilbar", also unverhandelbar ist.
So erfüllen Volksparteien eine Reihe hochkomplexer Aufgaben. Sie brauchen Realismus, aber auch eine Idee von Gesellschaft (ohne die Pragmatik kleinmütig wird). Sie brauchen ein Konzept, in dem sich unterschiedliche Gruppen wiedererkennen können, ohne es allen recht machen zu wollen. Denn sonst werden sie unglaubwürdig. Eine Volkspartei muss zugleich beweglich und unbeweglich sein. Beweglich, um gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln zu können. Unbeweglich, um ihren Prinzipien treu zu bleiben. Ansonsten verliert sie entweder den Anschluss an die neuesten Entwicklungen oder aber sie verliert sich selbst. In beiden Fällen geht sie ihrer integrativen Kraft verlustig.
Dann zerfallen die Strömungen, die sie verbinden sollte. Dann wird die ehemalige Volkspartei - wie bei den Wahlen am Sonntag zu sehen war - von ihren eigenen Abspaltungen bedrängt. Dann gewinnen die prononcierten - ehemaligen - Kleinparteien am jeweils anderen Ende des politischen Spektrums. Das ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Verlust der Mitte und einer Radikalisierung. Es mag sogar den Vorteil haben, dass entschiedenere Positionen zum Zug kommen. Aber es hat den massiven Nachteil, der gesellschaftlichen Fragmentierung Vorschub zu leisten. Die Politik, die da noch gegensteuern will, ruft: "Ich will die Kanzlerin aller Deutschen sein!" Ob das aber in einer schwarz-gelben Koalition wirklich gelingen kann?
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