Kolumne In Fußballland: Alles eine Frage der Perspektive
Ein schönes Buch erzählt von der alten holländischen Tradition der Stadionwanderung. Unser Kolumnist erinnert sich gut an die Tage freier Platzwahl, als man Helden hinterherzog.
In "Oranje Brillant", dem wunderbaren Buch von David Winner über den holländischen Fußball, beschreibt der Engländer den seltsamen Umstand der Spielerverfolgung durch Zuschauer und erinnert indirekt daran, dass der Stammplatz im Stadion nicht zuletzt ein Produkt der Moderne im Fußball ist bzw. eines der Gewalt.
Winner erzählt dabei von Eddy Hamel, einem in Amerika geborenen Juden, der in den 1920er-Jahren bei Ajax Amsterdam sein ganz eigenes Publikum hatte. Hamels Fans sammelten sich damals auf den Rängen zwischen Mittellinie und Eckfahne, um ihren Lieblingsspieler aus der Nähe sehen zu können, und zogen dann in der Halbzeit zur gegenüberliegenden Seite des Stadions um. Hamel wurde später in Auschwitz ermordet, aber seine Tradition lebte in Amsterdam weiter. Von 1957 bis 1973 hatte Rechtsaußen Sjaak Swart bei Ajax eine Anhängerschar von Fans, die sich ganz ähnlich verhielten. In der Halbzeit wechselten sie auf die andere Seite des Stadions, wenn Swart dort die Gegner austanzte. Gleiches erlebte im Stadion De Kuip von Rotterdam auch Feyenoords Linksaußen Coen Moulijn, und in den frühen 1970ern konnten die Swart-Fans in Amsterdam nun Tscheu La Ling durchs Stadion folgen.
Gab es das in Deutschland auch? Wechselten Fans mit Stan Libuda die Seite oder mit Hans Schäfer? Ich selber zumindest wanderte Mitte der 1970er-Jahre durch die Stadien von Westfalia Herne und des VfL Bochum und schaute mir die Spiele aus unterschiedlichen Perspektiven an. Aufregenden Außenstürmern konnte ich dort nicht folgen (obwohl Bernd Ochmann bei Westfalia auf Linksaußen einige tolle Tricks drauf hatte und später Miodrag Petrovic auf der gleichen Position angeblich nur durch ein Techtelmechtel mit der Frau des Geschäftsführers gestoppt wurde), meine Erkundungen des Stadionraums waren eher solche des Publikums. Manchmal etwa stellte ich mich im deutlich überdimensionierten Herner Stadion, wo zehnmal mehr als die vielleicht dreitausend Zuschauer Platz gefunden hätten, in den fernsten Punkt der Kurve, um den Vater eines Klassenkameraden zu beobachten, der dort mit seiner Frau, einem Cockerspaniel, aber ohne meinen Klassenkameraden den Spielen folgte. 20, 30 Meter um das Trio stand sonst niemand, weil der Mann mit seinen unablässigen Beschimpfungen quasi die Luft verpestete. Seine schlechte Laune war phänomenal, und im Fall dramatischer Niederlagen nahm er Frau, Hund und den Gehstock, den er als Kriegsversehrter brauchte, um zur genau gegenüberliegenden Seite des Stadions zu gehen, um Spieler und Trainer so zu beleidigen, wie es die Welt seitdem nicht mehr erlebt hat.
In Bochum indes lungerte ich oft bei den Rentnern rum, wo es auf eine Art heimelig war, wie es das mit Menschen sein kann, die ihr Glück in kleinen Vergnügungen finden (was die Spiele des VfL waren). Wenn ich das Glück hatte, dass die Bochumer in der ersten Halbzeit in meine Richtung spielten, ging ich zur zweiten Halbzeit auf die andere Seite, und während ich das aufschreibe, klingt es für mich, als würde ich von der Zeit um den Zweiten Punischen Krieg erzählen.
Es war allerdings auch eine Art Krieg, der das Stadionwandern beendete. Von meinem Platz bei den Rentnern aus konnte ich irgendwann sehen, wie Bochumer Fans auf einem Fan aus Kaiserslautern herumsprangen, als sei er ein Trampolin. Mein Kumpel Bernd musste sogar miterleben, wie einem Bochumer von Düsseldorfern mit der Fahrradkette ein Auge ausgeschlagen wurde. Weil es so roh und gewalttätig zuging, wurden irgendwann Zäune und Abtrennungen im Stadion errichtet. Später wurden die Plätze entlang der Seiten zu wertvoll, um dort noch jemanden für kleines Geld stehen zu lassen. Ich suchte mir in Bochum einen Platz, der mein Stammplatz wurde, weil man nicht mehr herumrennen konnte.
Nur in Herne gibt es immer noch freie Platzwahl, weshalb es schön wäre, würde der FC Bayern dort spielen, dann könnte man einen wie Franck Ribéry mal zwei Halbzeiten lang aus der Nähe sehen.
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