Kolumne Immer bereit: Das Leben der Nachbarn
Soll man aus dem billigsten Haus von Pankow ausziehen, weil die Nachbarn nerven? Niemals!
Sieben Uhr morgens. Ich liege im Bett und starre an die Schlafzimmerdecke. Warum bin ich wach? Das Fenster ist zu, die Tür auch, es ist dunkel, ich habe Wachs in den Ohren gegen den Fluglärm. Eigentlich müsste ich selig schlafen, bis Paul zur Arbeit geht.
Ich bin erst um zwei ins Bett gekommen, weil ich noch an diesem Text hier herumgedoktert habe. Und weil die Nachbarn sich wieder so laut gestritten haben. Es ist furchtbar.
Wir wohnen im billigsten Haus von Pankow. Es ist von außen nicht schön, von innen nicht saniert, und die Miete ist so günstig, dass wir sie nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählen. Für den dramatischen Effekt. Wir werden niemals im Leben hier ausziehen.
Seit zwei Jahren wandelt die Hausverwaltung jede freie Wohnung in unserem Haus in Sozial- oder Umsetzwohnungen um. Wir sind das Bollwerk gegen die Gentrifizierung.
Die 20-jährige dreifache Mutter unter uns verbringt ihre Wochenenden hauptsächlich damit, ihren Freund anzubrüllen und mit Türen zu schlagen. Mir tut das immer unendlich leid. Für sie, den Freund, die Kinder. Und für das alte Haus. Im Sommer finden diese Auseinandersetzungen auf dem Balkon statt. Dann schaukelt sich ihre Stimme von einem nörgelnden Singsang nach dem dritten Bier zu Heul- und Schreiattacken bis tief in die Nacht. Und dann scheppern die Türen.
Ein paar Mal haben die Nachbarn schon die Polizei gerufen, aus Angst, dass die sich wirklich etwas antun. Und ein Typ aus dem Nebenhaus steckte im Sommer immer irgendwann den Kopf zum Fenster raus und sagte einfach laut und deutlich: „Halt’s Maul!“ Dann stritten sie in der Küche weiter.
Mir tut das so leid, weil ich noch genau weiß, wie sich das anfühlt, wenn man jung, unglücklich und überfordert von den eigenen Aggressionen ist. Als ich so alt war, hab ich mich mit meinem damaligen Freund auch oft so angebrüllt. Da kam zwar nie die Polizei, dafür sprach mich aber einer aus dem Nachbarhaus eines Tages auf der Straße an. Ob ich Hilfe bräuchte. Ich wusste erst gar nicht, was er meint. „Dein Freund“, druckste er, „schlägt der dich? Ich hab euch gehört und mir Sorgen gemacht. Mein Alter hat meine Mutter früher verprügelt. Ich ertrage das nicht. Kannste ihm sagen. Wenn wieder was ist, komm ich rüber.“
Oh Gott, war mir das peinlich!
Man merkt das doch einfach nicht, dass man nicht allein auf der Welt ist, wenn man zu zweit in einer Wohnung steht und so schrecklich wütend aufeinander ist, dass man alles kurz und klein hauen möchte. Das muss einem ja erst mal jemand sagen.
Gestern haben wir etwas gesagt. Paul war unten. Die Nachbarin war auch ganz verständig und gar nicht betrunken. Geholfen hat es trotzdem nichts. Um halb zwei flogen die Möbelstücke durch die Gegend. Zumindest hörte es sich so an.
Nun liege ich im Bett und sorge mich. Mir tun vor allem die Kinder leid! Die können sich nämlich nicht wehren. Weil sie einfach schwächer sind. Das Jugendamt hat wohl ein Auge auf die Familie, aber die sind doch total überlastet. Manchmal werde ich nachts wach, weil der Kleine schreit. Sein Kinderzimmer ist direkt unter unserem Schlafzimmer. Ich höre sein Schreien durch den Fußboden, unser Bett, die Sieben-Zonen-Kaltschaummatratze, mein Kopfkissen und das Wachs in meinen Ohren. Irgendwann hört sie es auch. Wenn dem Jungen morgens langweilig ist, springt er auch manchmal vom Bett. Immer wieder. Zum Aufwachen. Sehr effektiv. Für ihn. Und den Rest des Hauses.
Mann, ey! Ich habe keine Lust, mir über anderer Leute Leben den Kopf zu zerbrechen! Ich will mein eigenes auf die Reihe kriegen! Ich hab selber genug Probleme! Und warum bin ich überhaupt wach, zum Teufel noch mal?!
Poch, poch, poch.
Nee, oder?
Da hämmert jemand. Um sieben Uhr morgens. Ich fasse es nicht. Wahrscheinlich reparieren sie jetzt die Möbel, die sie letzte Nacht zerschlagen haben. Oh Gott, ist das furchtbar!
Wir werden niemals im Leben hier ausziehen.
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